
Das High-School-Mädchen Anahita (Prasanna Bisht) verliert auf traumatisierende Weise die Mutter, und auch sonst läuft Anahitas Leben ganz und gar nicht rosig: Die strenge Großmutter will sie einfach nicht verstehen (und andersherum), während ihre Mitschüler*innen sie mobben, indem sie ihr unterstellen, lesbisch zu sein oder Kuhurin zu trinken. Trost findet Anahita nur in ihrer Geschichtslehrerin Shalini (Mansi Multani), die ihr Interesse für das altindische Okkulte, das sie bereits von ihrer Mutter erbte, intensiviert. Motiviert vom Symbol des Nabels, einer spiralförmigen Steinformation, die eine uralte Kraft ausstrahlt, macht sich Anahita zusammen mit Shalini und einigen anderen Schüler*innen und Lehrenden auf, im nordindischen Sikkim den Mythen auf den Grund zu gehen und mehr über sich selbst zu lernen. Klingt erst einmal wie eine klassische, düstere Coming-of-Age Story, entlädt sich aber in bildgewaltigem, brutal selbstermächtigendem Folk-Horror.
Ausflug in einen okkulten Wald
Was passiert mit Mobbern, die von der Hilflosigkeit ihres Opfers ausgehen und es dabei eine Spitze zu weit treiben? Genau, sie bekommen einen Füller erbarmungslos in den Hals gerammt – so die (zumindest in diesem Extent) nicht ganz nachahmenswerte Retourkutsche Anahitas gegen ihre Peiniger. Kein Wunder also, dass sie aufgrund ihrer Erlebnisse die okkulte Welt dem schnöden, schmerzhaften Diesseits vorzieht. Fasziniert vom prähistorischen Sagenkonstrukt der Bokshi („Hexe“ auf Nepali) begibt sich Anahita also mit ihrer Geschichtslehrerin Shalini und einer schulischen Reisegruppe an den Fuß des Himalaya-Gebirges, auf einen Trip voller psychedelischer Pilze, Grenzerfahrungen, Streit und Stress, wobei allerdings vor allem weibliche Kraft getankt und ausgeübt wird; ein starkes Zeichen für solch eine patriarchale Gesellschaft, wie sie in Indien meist immer noch vorherrschend ist.
Bokshi erinnert an gängigen Arthouse-Horror wie The Witch, versetzt mit klassischen Tropen wie Klassenfahrt, jugendlicher Rebellion, spiritueller Weiblichkeit und die Reise einer Auserwählten, die quasi noch gar nicht weiß, dass sie irgendwann das Schlüsselelement der gesamten Geschichte wird. Diese Komponenten werden von Regisseur Bhargav Saikia, der hiermit sein Langfilmdebüt zelebriert, jedoch gekonnt miteinander verwoben und mit intensiven (gleichzeitig teilweise auch amateurhaft wirkenden) Schauspielleistungen sowie vor allem zum Ende hin beeindruckenden Visuals garniert. Je psychotischer und wilder die Szenerie wird, je tiefer die zahlreichen Traumsequenzen in geschichtliche Visionen eindringen, desto besser entfaltet sich auch Saikias Vision, der sich fünf Jahre lang auf diesen Film vorbereitete und mit „Boksirit“ sogar eine vom Linguisten Jan van Steenbergen eigens für Bokshi entwickelte Sprache aufweist.
Folkloristisch-spiritueller Fiebertraum
Handwerklich nicht immer ausgereift, dafür mit sichtlich viel Herzblut erschaffen, hätte dieses Feuerwerk an teils kreativen, teils öfter bereits gesehenen Ideen von einem rigoroseren Editing profitiert: Mit fast zweieinhalb Stunden verläuft sich Bokshi ab und an mal genauso wie die Schüler*innengruppe im Wald, bleibt aber visuell und rein seelisch weiterhin bestechend; von Kurzweiligkeit etwas entfernt, aber von Langeweile umso weiter. Die Form stimmt und erinnert an andere kontemporäre Produktionen aus dem Jahre 2025 wie Kein Tier. So wild. durch die zwischen hypnotisierend und aufrüttelnd wandelnden Traumsequenzen und die Darstellung kompromissloser weiblicher Stärke, die auch mal in Brutalität umschlagen kann – auch scheut man sich hier nicht, trotz einen modernen, cleaneren Looks, mal satte Farben zu benutzen.
Momente, die aus der Mystizität des Films herausreißen können (wie z.B. eine Trainingsmontage) sind glücklicherweise spärlich gesät und werden mit umso schockierenden, kraftvollen Momenten, allen voran das wirklich pompöse Ende, wieder aufgewogen. Die Spannung, dass ständig etwas Schreckliches passieren könnte, wird stabil aufrecht gehalten, und dadurch, dass vor den uralten Kräften des Waldes jede*r gleich ist, egal ob Mann oder Frau, jung oder erfahren, gibt es in der Tat ein „anything can happen“ Gefühl. Bokshi zapft mit geschlechtsbezogenen, kultischen Artefakten Verbindungen und Emotionen an, die zum Ursprung der Menschheit zurückreichen, und ist eindeutig für das Erleben auf einer großen Leinwand bestimmt.
OT: „Bokshi“
Land: Indien
Jahr: 2025
Regie: Bhargav Saikia
Drehbuch: Harsh Vaibhav
Musik: Advait Nemlekar
Kamera: Siddharth Sivasankaran, A. Vasanth
Besetzung: Prasanna Bisht, Mansi Multani
International Film Festival Rotterdam 2025
Sitges 2025
Transit Filmfest 2025
Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.
(Anzeige)

