
Der Schock ist groß bei Nora Borg (Renate Reinsve). Eigentlich hatten sie und ihre Schwester Agnes Borg Pettersen (Inga Ibsdotter Lilleaas) nur in Ruhe die Totenfeier für ihre Mutter abhalten wollen, als auf einmal ihr Vater Gustav (Stellan Skarsgård) vor ihnen steht. Eigentlich haben sie kaum Kontakt zu ihm. Das Verhältnis war auch nie das Beste, seitdem er die Familie verlassen hatte, was vor allem Nora ihm noch immer übelnimmt. Nun ist er zurück. Mehr noch: Der renommierte Regisseur will zum ersten Mal seit Jahren einen Film drehen und hat ausgerechnet Nora für die Hauptrolle ausgesucht. Diese lehnt ab, will nicht einmal das Drehbuch lesen, weshalb Gustav die Rolle mit Rachel Kemp (Elle Fanning) besetzt. Doch damit ist die Sache nicht ausgestanden …
Rekonstruktion einer Familiengeschichte
Mit komplizierten zwischenmenschlichen Beziehungen kennt sich Joachim Trier natürlich aus. Immer wieder thematisiert der norwegische Regisseur diese in seinen Filmen. So muss sich in Louder Than Bombs (2015) eine entfremdete Familie mit der schwierigen eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, als die verstorbene Mutter mit einer Ausstellung gewürdigt werden soll. Der schlimmste Mensch der Welt (2021) folgt einer jungen Frau, die auf die 30 zugeht und zwischen mehreren Männern steht, weil sie selbst nicht weiß, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Mit Sentimental Value meldet sich der Filmemacher nun zurück und legt dabei noch eins drauf. Das Drama wird von Festival zu Festival weitergereicht, hat fantastische Kritiken bekommen. Auch der eine oder andere Filmpreis dürfte am Ende dabei herausspringen, allein beim Europäischen Filmpreis 2026 hat er acht Nominierungen erhalten.
Dabei greifen Trier und sein langjähriger Drehbuch-Partner Eskil Vogt auf bewährte Mittel zurück, die man aus anderen Filmen der beiden kennt. Gerade eben Louder Than Bombs bietet sich als Vergleich an, wenn in beiden Fällen der Tod der Mutter zum Katalysator wird, die eigene Familienvergangenheit zu rekonstruieren und aufzuarbeiten. Beim Ensemble finden sich ebenfalls vertraute Gesichter: Hauptdarstellerin Reinsve war durch Der schlimmste Mensch der Welt bekannt geworden. Anders Danielsen Lie spielt in beiden Filmen das Love Interest der Protagonistin. Das Motiv des selbstsüchtigen Vaters, der die Familie im Stich gelassen hat, ist jetzt auch keins, mit dem man wirklich viel Aufmerksamkeit erzeugt. Dafür wurde es zu oft verwendet. Doch wie so oft liegt die Kunst im Detail. Manches, was klar erscheint, wird in Sentimental Value mit der Zeit vielschichtiger.
Einer der emotionalsten Filme des Jahres
Die Antworten, die Nora sucht – und damit auch das Publikum – liegen zum Teil weit in der Vergangenheit begraben. Je tiefer wir buddeln, umso stärker stellen sich Parallelen heraus, werden Sachverhalte klar. Aber es verschwimmen auch Grenzen. Trier verwendet hierfür das Mittel des Films im Film. So nutzt Gustav in Sentimental Value seine Arbeit dazu, seine eigene Familiengeschichte zu verarbeiten. Ob er das bewusst tut oder das intuitiv geschieht, wird dabei nicht ganz klar. In einer späten Szene deutet sich ein Einfühlungsvermögen an, das man ihm zuvor nicht zugetraut hat. Die anfangs etwas einseitig anmutende Familiengeschichte wird so komplexer – und richtig bitter.
Dabei ist das Drama, welches im Wettbewerb von Cannes 2025 Weltpremiere feierte, keines, das auf die Tränendrüse drückt. Auch wenn sich der Titel so anhört, sentimental ist das nicht. Manchmal ist Sentimental Value sogar komisch, gerade, wenn Trier die Gelegenheit nutzt, über das Filmgeschäft als solches zu sprechen und sich darüber lustig zu machen. Die Geschichte um eine Familie, die spät lernt, sich einander und sich selbst zu stellen, ist aber auch so eines der emotionalsten Werke des aktuellen Kinojahrs geworden. Getragen von einem herausragenden Ensemble erinnert einen der Film daran, was es heißt, ein Mensch zu sein – mit all den schönen und hässlichen Seiten. Mit der Verzweiflung und der Ohnmacht, wenn die Welt wieder einmal zu viel zu werden droht. Aber auch der Hoffnung, dass es anders kommen kann, wenn wir einer Gemeinschaft vertrauen, die wir im Alltag zu oft vergessen.
OT: „Affeksjonsverdi“
Land: Norwegen, Frankreich, Dänemark, Deutschland
Jahr: 2025
Regie: Joachim Trier
Drehbuch: Eskil Vogt, Joachim Trier
Musik: Hania Rani
Kamera: Kasper Tuxen
Besetzung: Renate Reinsve, Stellan Skarsgård, Inga Ibsdotter Lilleaas, Elle Fanning, AndersDanielsen Lie, Jesper Christensen, Lena Endre, Cory Michael Smith
Cannes 2025
Filmfest München 2025
Locarno 2025
Telluride Film Festival 2025
Toronto International Film Festival 2025
San Sebastian 2025
BFI London Film Festival 2025
Around the World in 14 Films 2025
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