
Der Vater – oftmals eine Schlüsselfigur im Leben, oftmals leider aber auch ein schlechter Einfluss oder gar abwesend aufgrund falsch verstandener gesellschaftlicher Rollenbilder, Überforderung, mangelnder psychologischer Hilfe sowie anderer Probleme, selbst, wenn diese Person sich wirklich Mühe gibt. So ist es auch bei den beiden Jungs Remi (Chibuike Marvelous Egbo) und Aki (Godwin Egbo), die mit ihrer Mutter Bola (Efon Wini) am Rande von Lagos leben. Der Vater Folarin (Sope Dirisu) gehört zwar auch noch offiziell zur Familie, lässt sich jedoch kaum blicken – vordergründig aus Geldbeschaffungsgründen. An einem verheißungsvollen Tag im Sommer 1993 steht er allerdings unangekündigt wieder im Haus und nimmt seine Söhne mit, um einen Ausflug in die Millionenmetropole zu machen. Was als Spaß beginnt, wird zu einem Event, bei dem Aki und Remi mehr hinter die Fassade ihres Vaters schauen können, als ihnen eigentlich lieb ist.
„This is Lagos, you must open your eyes“
Während Aki und Remi auf dem Familiengrundstück vergnügt mit Wrestlingfiguren spielen, zieht ein unheilvoller Wind auf, der sie ins elterliche Schlafzimmer führt. Verblüfft sind sie, als sie ihren Vater Folarin dort antreffen, der sich gerade umzieht; für die Brüder ein rarer Anblick, denn Folarin ist meist auf Achse, um Geld für die Familie aufzutreiben, und hat somit keine tiefe Bindung zu seinen Söhnen – die ihn verständlicherweise trotzdem verehren – aufbauen können. Nachdem er ankündigt, dass er sie nach Lagos mitnimmt, ist die Freude groß: Endlich mal wieder eine Unternehmung mit dem Papa, endlich mal wieder in die Großstadt! Doch bereits auf der Fahrt dorthin wird ihnen bewusst, dass etwas Komisches vor sich geht.
Genau an diesem Tag, am 12. Juni 1993, finden die ersten freien Wahlen Nigerias seit dem Militärputsch zehn Jahre davor statt, und das politische Klima ist spürbar aufgeheizt. Militärs ziehen auf, Kontrollen werden strenger, und es wird gemunkelt, dass sich der amtierende militärische Anführer Ibrahim Babangida in die Wahlen einmischen wird. Das bestätigt sich übrigens später, als Babangida die Wahlen, die der sozialdemokratische Kandidat M.K.O. Abiola gewonnen hätte, annulliert.
Während sich die Szenerie entfaltet, bekommt man als Zuschauer*in die Welt aus den Augen der Kinder mit. Immer wieder gibt es humoristische Versatzstücke während der bereits spannend gefilmten Reise nach Lagos, Aki und Remi beobachten leichtherzig aus der Distanz die Probleme, die das Leben in der Metropole mit sich bringt: obdachlose Menschen mit Behinderungen, herumlaufende Tiere, tumultartige Szenen, Chaos, insgesamt quirliges Treiben. Lebendig und authentisch wird die Stadt im Film durch menschliche Interaktionen, Dialoge und Zwischenszenen, die kurz vom eigentlichen Trip wegführen, aber glaubwürdig die diversen Faktoren des Lebens in Lagos darstellen. Aki und Remi lassen sich treiben, hinterfragen wenig, beobachten den Vater beim Erledigen verschiedener Aufgaben, merken aber dabei, dass die Beschäftigungen des Dads nicht ganz koscher sein können. So wird er stets mit anderen (Spitz-)Namen begrüßt, braucht von dem ein oder anderen Mann Geld, kommt auch in etwaige Stresssituationen, die weiterhin durch eine kindlich naive Brille beleuchtet werden.
„Everything is sacrifice“
Zwischen all den Mühen, die der Vater zwischendurch hinter sich bringen muss, darf der Spaß mit seinen Söhnen, die er merklich liebt und sich dessen bewusst ist, dass sein Fehlen ihnen nicht guttut, nicht zu kurz kommen: Er nimmt sie mit in einen Vergnügungspark, zum Strand, in eine Bar, und je näher sie sich emotional wieder kommen, desto mehr kommen auch kritische Fragen seitens der Brüder: Warum lässt er sie denn nun ständig allein? Auch wenn Folarin versucht, plausible Erklärungen zu finden, wird klar, dass es nur Ausreden sind. Schließlich sehen die Kinder ihre Mutter täglich, und die kümmert sich um sie. Warum darf sich also der Vater erlauben, nicht physisch bei ihnen zu sein?
In den Fragen und den Gesprächen werden vielschichtige soziale Probleme deutlich, die zwar nicht vollständig beantwortet, aber immer wieder so angerissen werden, dass man sich die Antworten darauf denken kann: generationsübergreifende Traumata, toxische Maskulinität, die eigenen Päckchen, die auch Eltern mit sich herumtragen müssen, selbst wenn sie die Verantwortung für ihre Kinder tragen, und schließlich auch die Opfer, die sie erbringen müssen, oder wie Folarin in einer traumhaft melancholischen Szene am Strand sagt: „Everything is sacrifice, you just have to pray you don’t sacrifice the wrong thing.“
Schemenhaft und mit viel Raum zur Interpretation finden auch die Tätigkeiten statt, die das Trio an jenem Tag erlebt – es schwingt stets ein Hauch von Surrealismus mit, ein traumähnlicher Schleier liegt über den Bildern, die fragmentiert, dennoch chronologisch, aneinandergereiht werden, bis die Unruhen in Lagos und in der Seele des Vaters immer deutlicher mithilfe experimentellerer Bildsprache dargestellt werden. Was etwas stört, sind zwei-drei Slow-Motion-Aufnahmen, die die Derealisation der Kinder während emotional aufwühlender Erlebnisse verdeutlichen sollen, allerdings in der Form zu häufig im aktuellen Arthouse-Kino verwendet werden.
Generell bedient sich Regisseur Akinola Davies Jr. in seinem ersten Langfilm an zahlreichen Tropen des Festivalkinos, so erinnert My Father’s Shadow deutlich an Charlotte Wells ähnlich phänomenalen Film Aftersun, doch er vermag es, diese außerordentlich geschickt, ansehnlich und gefühlvoll in sein Werk einzuarbeiten. Auch das Thema des absenten Vaters ist lange nicht auserzählt – schließlich geht es um individuelle Schicksale, die äußerst persönlich auf der Leinwand wiedergegeben werden können. Und wenn dies noch so stimmig und emotional vonstattengeht, sowohl bei Bild als auch Sujet, ist das umso erfreulicher. Oder eben (auf beste Weise) elegischer.
OT: „My Father’s Shadow“
Land: UK, Nigeria
Jahr: 2025
Regie: Akinola Davies Jr.
Drehbuch: Wale Davies, Akinola Davies Jr.
Musik: CJ Mirra, Duval Timothy
Kamera: Jermaine Edwards
Besetzung: Sope Dirisu, Godwin Egbo, Chibuike Marvelous Egbo, Efon Wini
Cannes 2025
Toronto International Film Festival 2025
Filmfest Hamburg 2025
BFI London Film Festival 2025
Afrikamera 2025
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