The Secret Agent
Szenenbild aus "The Secret Agent" von Kleber Mendonça Filho (© Port au Prince Pictures)

Kleber Mendonça Filho [Interview]

Kleber Mendonça Filho ist ein brasilianischer Regisseur und Drehbuchautor. Nach seinem Abschluss an der Universidade Federal de Pernambuco drehte er zahlreiche experimentelle Kurzfilme und schließlich 2008 seinen ersten Langfilm Crítico. Seine Spielfilme Von großen und kleinen Haien (2012) und Aquarius (2016) erreichten ein internationales Publikum und fanden bei Kritik und Zuschauern viel Anklang. Besonders beschäftigen ihn die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umstände seiner Heimat, beispielsweise die Wohnsituation vieler Menschen (Aquarius) oder die Kolonialgeschichte sowie deren Aufarbeitung (Bacurau).

In seinem neuen Film The Secret Agent geht es um einen Ingenieur – gespielt von Wagner Moura (Narcos) – und wie er zur Zielscheibe der Militärdiktatur im Brasilien der 1970er-Jahre wird. In den deutschen Kinos startet der Film am 6. November 2025.

Im Interview spricht Kleber Mendonça Filho über die Themen seines Films, die Zusammenarbeit mit Schauspieler Wagner Moura und über seinen Inszenierungsstil.

The Secret Agent hätte sicherlich ein rasanter Thriller werden können, doch stattdessen zeigt er den Alltag in einer Militärdiktatur, in der Korruption und Gewalt herrschen. Wie kam es zu dieser interessanten Form?

Die Form der Geschichte muss zu dem Thema passen, über das du in deinem Film reden willst. Ich finde, Korruption ist unglaublich dramatisch und zugleich fotogen. Es gibt keine Menschen, die offen verkünden, dass sie nun jemanden betrügen oder sich bestechen lassen. Stattdessen findet Korruption sehr organisch statt, zum Beispiel, wenn dich jemand fast schon beiläufig nach deinem Führerschein fragt. Oder vielleicht nach dem Feuerlöscher in deinem Auto. Vielleicht will jemand sich auch einmal den Zustand deines Ersatzreifens genau ansehen. Dann versteht man, dass hier etwas überhaupt nicht stimmt. Man beginnt zu verstehen, wie Korruption wirklich funktioniert.

Wenn man in das Brasilien vor 50 Jahren reist, war Korruption überall präsent, vor allem mit Männern in Uniformen. Polizisten konnten sich alles erlauben.

Die Hauptfigur in The Secret Agent hat in seinem Leben immer versucht, das Beste für sich, seine Familie und seine Kollegen zu machen. Das wird ihm zum Verhängnis, was sehr bedrückend und schockierend ist. Marcelo ist ein guter Vater, ein guter Ehemann und ein guter Forscher. Nicht all seine Entscheidungen waren immer so gut, doch insgesamt würde man ihn schon als guten Menschen beschreiben. Dennoch wurde er in den Augen des System zu einem Problem.

Ich denke, dass es unter der Militärdiktatur in Brasilien vielen Menschen so ging wie der Hauptfigur. Von einem Moment auf den anderen fanden sie sich auf der anderen Seite des Gesetzes wieder.

In The Secret Agent kommen sehr viele surrealistische Symbole vor, wie beispielsweise die zweiköpfige Katze oder das behaarte Bein. Warum sind diese Symbole für dich als Regisseur wichtig?

Ich verstehe, warum du diese Symbole surrealistisch nennst, aber ich finde, sie beschreiben rein körperliche Phänomene. Katzen wie auch Menschen können mit solchen Deformationen auf die Welt kommen und meist wirkt sich dieser Umstand negativ auf ihre Lebenserwartung aus. Wenn dies nicht geschieht, ist es leider oft so, dass Menschen dem Leben dieser Geschöpfe ein Ende setzen, weil man der Meinung ist, sie würden ja kein glückliches Leben haben.

Die Katze im Film jedoch scheint sehr glücklich und zufrieden zu sein. Vielleicht ist sie deswegen nach zwei Ikonen der 1970er-Jahre benannt, nämlich Liza Minnelli und der brasilianischen Sängerin Elis Regina. Sie ist die Verbindung von Liza und Elise und ich finde das ganz toll. (lacht)

Die Geschichte mit dem haarigen Bein erinnert an magischen Realismus. Ich kann verstehen, wie Zuschauer oder Kritiker darauf kommen, doch es ist nicht so. Es handelt sich um eine reale Geschichte, die damals in den Zeitungen stand. Meine Mutter hat sie mir als ich klein war während des Frühstücks vorgelesen. Sie hat sich damals auch gewundert, ob es sich um einen Scherz handelt oder um ein Märchen. Zu der Zeit war es aber ein ernst gemeinter Artikel in der Tageszeitung.

Zu dieser Zeit war die Geschichte um das haarige Bein ein Beispiel für die Zensur. Ein Reporter oder eine Zeitung hätte mit harten Strafen rechnen müssen, wenn sie geschrieben hätten, wie die Polizei gegen Homosexuelle einschritt. Stattdessen schrieben sie darüber, dass ein haariges Bein eine Person angegriffen hat und dann auch dessen Freund niederschlug.

Nach einer Weile verstand natürlich jeder, wer wirklich hinter diesen Verbrechen steckte. Ich finde diese Art der Codierung von Sprache toll, weil sie zum einen zeigt, wie kreativ Menschen die Gewalt des Staates versuchten zu umgehen und gleichzeitig eine Metapher für die Verrücktheit der Welt, in der sie tagtäglich lebten, fanden.

Um ehrlich zu sein, bevorzuge ich solche Bilder gegenüber Szenen über Folter oder Mord. Wir wissen doch, dass diese Verbrechen hinter den Kulissen stattfanden. Die Geschichte des haarigen Beines bringt noch eine andere Wahrheit über ein autoritäres Regime ans Licht.

Die Zeit der Militärdiktatur wird in Brasilien erst seit wenigen Jahren wirklich aufgearbeitet. Welchen Beitrag kann ein Film wie The Secret Agent bei diesem Prozess leisten?

Was die Macht des Kinos angeht bin ich zwiegespalten. Ein Film kann starke Bilder und Verhaltensweise etablieren und zu einem wichtigen Werkzeug werden – sowohl im negativen als auch positiven Sinne. Meiner Meinung nach ist Kino in erster Linie ein Archivstück. Man denkt immer, diese Definition trifft vor allem auf Dokumentation zu, doch auch ein Spielfilm besteht auf Archivgut und wird letztlich auch zu einem solchen. Nachfolgende Generationen, die sich den Film dann ansehen, erkennen darin die Zeit wieder, in der er entstanden ist, über die Geschichte und wie sie verbreitet wurde.

Natürlich ist ein Film nicht nur das. Mit ihm kann man auch Geschichten erzählen, aber auch über Zeit und deren Vergehen. The Secret Agent ist ein Film darüber, warum und wie manche Geschichten überleben und welche Rolle sie für die Nachwelt spielen können. Wenn ich mehr sage, verrate ich die Botschaft des Films. (lacht)

Es ist interessant, welch unterschiedliche Reaktionen The Secret Agent auslöst. In den USA haben viele Zuschauer sehr heftig auf den Film reagiert, genauso wie in Spanien. Dort gibt es ja nach wie vor ein Problem bei der Aufarbeitung der Jahre unter General Franco. Der Film spielt zwar in Brasilien, doch seine Themen sind universell.

Marcelo ist kein typischer Held, wie du bereits gesagt hast. Er wirkt vielmehr wie eine Figur aus einem Film Alfred Hitchcocks, die durch Zufall zur Zielscheibe wird. Was findest du faszinierend an dieser Figur und wie hat dir die Zusammenarbeit mit Hauptdarsteller Wagner Moura dabei geholfen, die Idee zu dieser Figur umzusetzen?

Das ist eine interessante Beobachtung. Tatsächlich sehe ich Marcelo als einen klassischen Helden, wie Cary Grants Figur in Der unsichtbare Dritte. Er weiß auch die Hälfte der Zeit nicht, wie ihm geschieht und warum man ihn umbringen will. Man kann sich leicht mit ihm identifizieren, denn man würde wahrscheinlich ähnlich empfinden wie er, wenn man in einer solchen Situation wäre. Marcelo in The Secret Agent weiß meist auch nicht mehr als der Zuschauer selbst, sodass man – wie er – irritiert oder schockiert auf das reagiert, was er sieht oder ihm geschieht.

Ich wollte tatsächlich schon lange mit Wagner zusammenarbeiten. Doch manchmal braucht es eben Zeit, bis man das richtige Projekt für einen Darsteller wie ihn gefunden hat. Wir haben sehr ähnliche Sichtweisen, wenn es um die Politik Südamerikas geht und fürchten uns auch nicht, diese Meinungen auszusprechen. Das verbindet uns und ich freue mich sehr darüber, dass er auf den Filmfestspielen in Cannes mit dem Preis in der Kategorie „Bester Darsteller“ geehrt wurde.

In dem Brasilien, in dem Politiker wie Jair Bolsonaro oder Michel Temer vor ihm den Ton angeben, haben es Künstler nicht leicht. Wenn man sich in einer anderen Sprache im Ausland über Brasilien oder ihre Politik äußert, macht man sie leicht wütend, was Wagner und ich am eigenen Leib zu spüren bekommen haben. Dabei reicht es schon, wenn man einfach nur sagt, dass man denkt, Bolsonaro sei nicht gut für Brasilien.

Eine besonders schöne Szene findet in einem Kino und in dessen Projektionsraum statt. Welche Bedeutung hat diese Szene für dich?

Das freut mich sehr. Ich mag diese Orte wie das Kino oder das Apartment, in dem wir auch einen Teil von The Secret Agent gedreht haben.

Diesen Film würde es nicht ohne Pictures of Ghosts geben. In dieser Dokumentation erzähle ich die Geschichte meiner Heimat aus der Sicht der alten Kinos in der Innenstadt. Ich habe sehr viel Filmmaterial verwendet, das ich während meiner Zeit als Student an der Universität aufgenommen habe. Unter anderem enthielt dieses Material eine Unterhaltung mit einem Filmprojektionisten namens Alexandre, der nun schon seit 23 Jahren verstorben ist. Als ich an The Secret Agent arbeitete, erinnerte ich mich wieder an ihn und schrieb die Szene, auf die deine Frage anspielt.

Das St. Louis-Lichtspielhaus zu zeigen war bestimmt eine der schwierigsten Aufgaben beim Dreh. Als ich Kind war, habe ich dort meinen ersten Filme gesehen, unter anderem 1974  einen Tom and Jerry-Marathon. Zum Glück ist das Gebäude in einem guten Zustand und hat noch viel von der Magie, die es damals hatte.

Was ich als Regisseur natürlich toll finde, ist, dass die Figuren sich an diesem Ort so sicher fühlen, dass sie dort ein geheimes Treffen abhalten. Diese Idee gefällt mir wirklich sehr.

In The Secret Agent – wie auch in deinen früheren Filmen Bacurau oder Aquarius – beobachtest du sehr genau Orte, Menschen und ihre Beziehungen. Wie schaffst du es die Spannungsdramaturgie eines Thrillers aufrechtzuerhalten und zugleich diese erzählerische sowie politische Tiefe zu erzielen?

Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Das ist eigentlich ein Vorgang, der mit dem Schreiben des Drehbuchs beginnt, bei der Arbeit mit den Schauspielern sich fortsetzt und auch die Regie beeinflusst. Ich behaupte, dass wenn man eine Figur genau genug beobachtet und sie interessant genug ist, dass man sich für sie interessiert, schafft man Spannung. In The Secret Agent gibt es eine Frau, die eine Affäre mit Marcelo hat und eigentlich wäre es ein Leichtes gewesen, sie als seine neue Geliebte zu schreiben – tatsächlich habe ich dies schon in einigen Besprechungen auf Letterboxd gelesen. Eigentlich ist sie nur eine Frau, die etwas Zeit mit Wagner Mouras Figur verbringt und mehr nicht.

Ein weiteres Beispiel ist Sebastiana – die alte Frau, die sich um Marcelo und die anderen politischen Flüchtlinge kümmert. Sie ist eine ungemein interessante Figur, über die man viel ahnt, aber wenig Konkretes weiß. Im Grunde gibt es in The Secret Agent keine Nebenfiguren, denn selbst eine Figur, die nur zwei Dialogzeilen hat, erscheint irgendwie wichtig.

All diese Figuren haben ihre Motive und ihre Vergangenheit, doch sie wird nie explizit mitgeteilt. Für viele ist die Frau, die mit Marcelo eine Nacht verbringt, seine Geliebte und mehr nicht. Dann irritiert sie den Zuschauer, wenn sie auf einmal jemandes Zähne untersucht. Sebastiana könnte eine Kommunistin sein, doch wirklich wissen kann man dies nicht.

Vielen Dank für das tolle Gespräch.



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