
Für Lydia (Hafsia Herzi) bricht eine Welt zusammen, als ihr Freund sie nach drei Jahren Beziehung aus heiterem Himmel verlässt. Außer sich streift sie in den folgenden Tagen ziellos durch die Stadt und lernt dabei den Busfahrer Milos (Alexis Manenti) kennen. Sie versteht sich auf Anhieb gut mit ihm, verbringt am Ende die Nacht mit ihm. Zu ihrem Unglück will aber auch er nicht mehr, er sei nicht auf der Suche nach einer Beziehung. Lydia bleibt nicht anderes übrig, als sich auf ihre Arbeit als Hebamme zu konzentrieren. Außerdem braucht ihre beste Freundin Salomé (Nina Meurisse) Unterstützung, da diese seit der Geburt ihrer Tochter an einer postnatalen Depression leidet. Immer wieder kümmert sich Lydia um das Kind, um Salomé zu entlasten. Als sie eines Tages zufällig Milos wiedersieht, behauptet sie spontan, das Mädchen sei sein Kind – es ist die erste von vielen Lügen, um doch noch eine Beziehung eingehen zu können …
Alles anders als gedacht
Die Entführung ist ein Film, bei dem vieles nicht so läuft wie erwartet. So wäre bei dem Titel naheliegend, dass es sich um einen Krimi oder Thriller handelt, bei dem wir der Hauptfigur folgen, wie sie einen entführten Menschen befreien will. Stattdessen steht hier tatsächlich die Entführerin selbst im Mittelpunkt und die Geschichte wird überwiegend aus ihrer Perspektive erzählt. Es dauert zudem eine ganze Weile, bis das französische Drama überhaupt zu der Entführung kommt. Zunächst geht es darum, die Protagonistin genauer vorzustellen und zu zeigen, wie sie zu den fatalen Entscheidungen gekommen ist, die sie im weiteren Verlauf fällt. Denn auch wenn der Vorfall sehr spontan ist, für das Publikum wie sie aus heiterem Himmel kommt, hat er natürlich eine Vorgeschichte.
Zumindest teilweise ist das hier auch ein Liebesfilm. Regisseurin und Drehbuchautorin Iris Kaltenbäck, die hiermit ihr Langfilmdebüt vorlegte, greift sogar auf ein Motiv zurück, das man aus zahlreichen Liebeskomödien kennt. Hier wie dort erzählt die Hauptfigur eine Lüge, auf der die Beziehung dann aufbaut, die zum Ende aber auffliegen muss, damit Platz für die wahre Liebe ist. Komisch ist in Die Entführung aber nichts. Das Verhalten mag kurios sein, zum Lachen bringt es einen aber nicht. Stattdessen ist das hier eine durch und durch tragische Geschichte, wenn wir lauter Menschen kennenlernen, die auf die eine oder andere Weise mit ihrem Leben zu kämpfen haben. An einer Stelle heißt es, dass sich die Protagonistin und ihre beste Freundin eine Portion Glück teilen müssen. Das bedeutet dann eben auch: Es reicht nicht für beide.
Sehenswertes, ambivalentes Debüt
Wobei sich die Figuren zum Teil natürlich selbst im Weg stehen. Die Besessenheit, die Lydia demonstriert, als sie Milos kennenlernt, der seinerseits nur ein Lückenfüller nach der missglückten Beziehung ist, ist alles andere als gesund und erwachsen. Sie schafft es zwar immer, sich um andere zu kümmern, sei es Salomé oder auch die Frauen und Kinder, die sie bei der Arbeit betreut. Da darf es schon etwas irritieren, wie wenig kompetent sie sich in ihrem eigenen Leben bewegt. Die Entführung versucht sich dabei an einer differenzierten Betrachtung der jungen Frau, die sich und andere völlig unnötig ins Unglück stürzt. Dass ihr Verhalten vollkommen falsch und letztendlich unentschuldbar ist, ist zwar klar. Dennoch weckt der Film auch Mitgefühl für sie.
Hauptdarstellerin Hafsia Herzi, die gerade auch mit ihrer neuen Regiearbeit Die jüngste Tochter von Festival zu Festival reist, schafft dabei die Balance, wenn ihre Figur Protagonistin und Antagonistin in Personalunion ist. Während das Drama, das 2023 bei der Semaine de la Critique in Cannes Weltpremiere hatte, prinzipiell einen angenehm zurückhaltenden Ton einschlägt, irritieren die Voiceover. Die Entscheidung, Milos zum allgemeinen Erzähler zu machen, muss man nicht nachvollziehen können, sie wird weder inhaltlich noch inszenatorisch gerechtfertigt. Dennoch ist Die Entführung ein sehenswertes Debüt der französischen Filmemacherin geworden, das neugierig auf weitere Werke macht.
OT: „Le Ravissement“
IT: „The Rapture“
Land: Frankreich
Jahr: 2023
Regie: Iris Kaltenbäck
Drehbuch: Iris Kaltenbäck
Musik: Alexandre de La Baume
Kamera: Marine Atlan
Besetzung: Hafsia Herzi, Alexis Manenti, Nina Meurisse, Younès Boucif, Radmila Karabatic
Cannes 2023
Zurich Film Festival 2023
Filmfest Hamburg 2023
Französische Filmtage Tübingen Stuttgart 2023
Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg 2023
Französische Filmwoche 2024
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