Amoeba
© Diversion, Akanga Film Asia / Juliana Tan
Amoeba
„Amoeba“ // Deutschland-Start: nicht angekündigt

Inhalt / Kritik

Die 16-jährige Choo (Ranice Tay) ist die neue Schülerin an einer Mädchenschule. An der Schule herrscht strenge Disziplin, wobei jede Regelüberschreitung von der Direktorin sowie den anderen Lehrer geahndet wird. Dennoch findet die rebellische Choo Mittel und Wege, gegen dieses Regime aufzubegehren, was ihr viel Zuspruch in ihrer neuen Klasse einbringt. Sie findet in Vanessa (Nicole Lee Wen), Sofia (Lim Shi-An) und Gina (Genevieve Tan) neue Freundinnen, mit denen sie in den Pausen und nach der Schule sehr viel Zeit verbringt. Als eine von ihnen die Videokamera ihres Bruders zu einem Treffen mitbringt, albern die vier Mädchen zunächst nur herum, doch schon bald kommen sie auf eine andere Idee. Inspiriert von den Geschichten von Phoon (Jack Kao), dem Fahrer von Sofias Familie, sowie einem YouTube-Video wollen sie nun eine Gang gründen. Phoon gibt ihnen Anweisungen, wie sie sich zu benehmen haben und sogar, wie sie gehen sollen. Ihre Rebellion tragen die vier Jugendlichen dann auch in die Schule – sehr zum Leidwesen ihrer Eltern und der Schulleitung. Eines Tages jedoch begeht Choo einen folgenschweren Fehler, der die Zukunft und die Freundschaft der vier Schülerinnen aufs Spiel setzt.

Wie im Aquarium

Als Heranwachsende ist es immer schwierig, gegen den Strom zu schwimmen, denn die Erwartungen der Eltern, der Gesellschaft und der Freunde üben oft einen enormen Druck aus. Dennoch versuchte Regisseurin Siyou Tan den Ausbruch, was sie ihren Mitmenschen gegenüber entfremdete, und in die Isolation trieb. Sie beschreibt diesen Zustand wie den einer „Amöbe“, die zwar Teil des Ganzen ist, aber darin verloren wirkt und nicht hervorsticht. Dennoch ist ihr Debütfilm Amoeba keineswegs autobiografisch, denn viele Elemente – wie beispielsweise der Bezug zu Geistern oder die Beziehung der vier Schülerinnen – hätten nichts mit ihrem Leben zu tun. Den Konflikt zwischen der Integration in ein Kollektiv und der jugendlichen Rebellion kennt Tan jedoch sehr gut, weshalb sie ihn ins Zentrum ihrer Geschichte gesetzt hat. Zugleich ist Amoeba aber nicht ein reines Jugenddrama oder eine Coming-of-Age-Story, denn Tan geht es auch um die Identität einer Nation und wie diese jegliche Abweichung von der Norm ahndet, straft und korrigiert.

Die jugendliche Rebellion wird in einem Umfeld wie der Schule oder der Stadt schnell unterdrückt. Wie die Inspektion eines neuen Rekruten einer Armee muten die ersten Minuten Choos in ihrer neuen Schule an, bei der nicht nur die Länge ihres Rocks, sondern auch die Haarlänge gemessen wird – eine Berührung der Haare mit dem Kragen ihrer Schuluniform wird nicht geduldet. Generell herrscht ein rauer Ton an der Schule, denn die junge Frau sogleich zu spüren bekommt, als zu spät zum Unterricht erscheint, da sie den Raum nicht gefunden hat. Als sie sich dann für die Position des „class monitor“ (Assistent des Lehrers) meldet, bekommt sie zwar die Mehrheit der Stimmen, hat sich aber zu deutlich als Rebellin geoutet, sodass die Lehrkraft die Wahl verfälscht.

Tan zeigt eine Welt, in der die Erwachsenen mit dem Strom schwimmen und die Jugend dazu antreiben, es ihnen gleich zu tun, wobei ihr Alltag durch eine Abfolge von Drills und Konditionierungen geprägt ist. Choo und ihre Freundinnen sind kleine Fische in einem großen Teich (small fish in a big pond) – sie werden zwar geduldet, doch ihrer Rebellion wird keinerlei Bedeutung beigemessen. In ihrer Freizeit schaffen sie sich so etwas wie eine Parallelwelt, mit der sie ihre Ablehnung gegenüber einem System ausdrücken, was sie keineswegs verfolgt, sondern schlichtweg ignoriert. Immer wieder kehrt Tan zu diesem Grundmotiv zurück – erzählerisch wie visuell – und schafft es dabei sogar den Blick zur Gesellschaft außerhalb der Schule miteinzubeziehen.

Marode Strukturen

In Amoeba zeigt Siyou Tan nationale Identität als eine Sammlung von Narrativen, deren Wirkung allein auf Wiederholung beruht – wobei ihre Struktur sehr marode ist. Diese Idee wird an vielen Stellen deutlich, beispielsweise in der Diskussion der vier Freundinnen über den Merlion (Meerlöwe) als Wahrzeichen Singapurs oder wenn sie die Büste eines bekannten Politikers reinigen müssen als Teil einer Strafaufgabe. Aus Wut über die Sinnlosigkeit ihrer Tätigkeit schlägt eine der Figuren der Büste die Nase ab, sodass sie und ihre Freundinnen schnell die Flucht ergreifen. Das nunmehr lächerliche Bild eines Mannes ohne Nase wird zum Verweis auf dessen eigene moralische Verkommenheit sowie die allgemeine marode Substanz des nationalen Narrativs.

Insbesondere Neus Ollés Kameraarbeit und Sam Manacsas Setdesign betonen die Bestrebungen einer Gesellschaft, die gerade wirtschaftlich immer weiter in den Himmel wächst, doch auf den falschen Idealen fußt. Die Idole der Vergangenheit – wie die Götterbilder, die Choo auf der Baustelle findet – sind nichts als Relikte, die nur noch der Dekoration dienen oder wie eine peinliche Erinnerung verpackt und damit vergessen werden soll. Die Gegenwart wird dominiert von einer strengen Normierung, welche die Freundinnen vor eine Entscheidung stellt – wollen sie weiterhin Rebellen bleiben oder sich anpassen.

Credits

OT: „Amoeba“
Land: Singapur, Niederlande, Frankreich, Spanien, Südkorea
Jahr: 2025
Regie: Siyou Tan
Drehbuch: Siyou Tan
Musik: Keaton Henson
Kamera: Neus Ollé
Besetzung: Ranice Tay, Nicole Lee, Lim Shi-An, Genevieve Tan, Jack Kao, Ng Mun Poh, Janice Koh, Jo Tan, Zelda Tatiana Ng, Doreen Toh

Bilder

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Amoeba
fazit
Siyou Tans „Amoeba“ ist ein Jugenddrama über Identität, Konformismus und Rebellion. Besonders in der zweiten Hälfte gelingt der Regisseurin es, ihrer Geschichte eine neue, erweiterte Dimension zu verleihen, wenn sie auf das Singapur von heute blickt, auf die marode Struktur seiner historischen Narrative sowie die Unterdrückung alles Andersartigen.
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