A Century in Sound

„A Century in Sound“ // Deutschland-Start: nicht angekündigt

Inhalt / Kritik

In vielen Städten gibt es bestimmte Orte und Gebäude, die wie eine Zeitkapsel funktionieren. Während um einen herum das hektische Treiben der Großstadt vorbeizieht, gewinnen solche Orte zunehmend an Beliebtheit. Die Charakterlosigkeit vieler Franchise-Unternehmen hat den urbanen Raum nicht nur seiner Kultur beraubt, sondern er hat auch dazu beigetragen, dass es solche Orte, an denen uns die Vergangenheit bewusst wird, immer seltener und damit kostbarer werden. Gerade bei Cafés, Restaurants oder Gaststätten ist dies der Fall, da sie den Charakter einer Stadt oder eines Viertels ausmachten. Darüber hinaus waren oder sind sie Rückzugs- und Treffpunkte, an denen sich gesellschaftliche Entwicklungen und Trends ablesen lassen – Orte, an denen man die Geschichte einer Stadt nachverfolgen oder für einen Moment nachempfinden kann. Meist erinnern nur noch ein paar Fotos an diese Orte, doch manchmal gibt es sie noch und sie werden ebenso wohl behütet und wertgeschätzt wie die Exponate eines Museums.

Es ist faszinierend, dass gerade in jenen Städten, welche die Moderne maßgeblich prägten, der Trend zum Analogen und zu diesen Orten zu sehen ist. Tokio ist dafür ein besonderes Beispiel, da die Architektur der japanischen Hauptstadt wie keine andere den technischen Fortschritt symbolisiert. Dennoch wissen die Japaner sehr wohl zu schätzen, dass es noch solche sehr altmodischen Orte gibt, die zwar versteckt, dafür aber ganz besonders wertvoll sind. Für ihre Dokumentation A Century in Sound zeigen die Regisseure Nick Dwyer und Tu Neill ihren Zuschauern drei solcher Orte. Dabei handelt es sich um sogenannte Ongaku Kissa – Cafés oder Bars, in denen unterschiedliche Musikrichtungen gespielt werden  und die teils sogar zur Treffpunkten etwa der Rock- oder Punkszene Tokios wurden. Neben der Geschichte dieser drei Orte zeigen die Regisseure außerdem die komplexe, hochwertigen Musikanlagen der Inhaber, die unter Umständen sogar noch höher wertgeschätzt werden als das Speisen- oder Getränkeangebot. A Century in Sound erzählt über seine drei Schauplätze damit eine alternative Geschichte Tokios und seiner Einwohner und inwiefern solche Orte wertvoll für die Identität einer Kultur sind.

„Viele kommen nur wegen der Musik.“

Ein Blick auf die Besucher des „Café Lion“ in Tokio genügt, um zu bestätigen, dass Musik tatsächlich das höchste aller Vergnügen darstellt. Beinahe andächtig sitzen die Gäste vor ihrem Tee oder Kaffee und lauschen einer Symphonie Beethovens oder Mozarts, während um sie herum die Zeit stillzustehen scheint. Ähnliches bemerken wir bei der kunterbunten Gästeschar des „Bird Song Café“ – einst ein wichtiger Treffpunkt der Rocker- und Punkerszene Tokios – , die bei Bier und Schnaps der japanischen Rockmusik der 1970er- und 1980er-Jahre zuhört. Eine Frau erzählt im Interview, wie sie einst rebellisch war, nach Tibet reiste und sich gegen die konformistischen Ideale ihrer Eltern stellte. Jedes Mal, wenn sie das Bird Song Café betritt, erinnert sie sich an ihr jugendliches Selbst. Der Ort in Verbindung mit der Musik – sorgsam ausgewählt von den Inhabern oder der Belegschaft – ist wie eine Zeitkapsel und eine Möglichkeit des Rückzugs. Die einen erinnern sich an die Ideale der Jugend und vergleichen sich selbst mit der von heute, die anderen erkennen in der klassischen Musik eine Brücke zu einer Zeit, in der es weniger hektisch zuging und viele Dinge noch mehr Bestand hatten als in der Gegenwart.

A Century in Sound ist aber nicht nur ein nostalgischer Blick zurück, sondern eine faszinierende Geschichte einer Kultur, erzählt durch die Musik. Auch der technische Aspekt spielt dabei eine wichtige Rolle, wenn beispielsweise Masahiro Ochida über die Musikanlage des „Jazz & somethinelse“, für deren Konstruktion er Jahre brauchte und die er bis heute wartet und stets noch verbessert. Es geht nicht darum, dass jemand hereinkommt und einen Kaffee trinkt – Ochida betont, dass es um ein Erlebnis geht, dass mittlerweile viele Menschen aller Schichten suchen. Es geht um die Weitergabe der unterschiedlichen Geschichten und Ideale einer Zeit, weshalb Aspekte wie Klangqualität und Musikauswahl eine wichtige Rolle spielen. Außerdem geht es um die Identität dieser Orte, die man in einer globalisierten, gentrifizierten Welt immer weniger findet, was seine Bar sehr wertvoll macht, aber leider auch zu einer vom Aussterben bedrohten Spezies.

Credits

OT: „Hyakunen no neiro“
Land: Japan
Jahr: 2024
Regie: Nick Dwyer, Tu Neill
Kamera: Tu Flower

Trailer

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A Century in Sound
fazit
„A Century in Sound“ ist eine Dokumentation über drei Ongaku Kissa Tokios, drei Cafés und Bars, an denen man durch Flair und Musik zurückversetzt wird in eine bestimmte Zeit. Nick Dwyer und Tu Neill erzählen die Geschichte einer Stadt und ihrer Menschen anhand dieser besonderen Orte. Ihre Dokumentation ist faszinierend und unterhaltsam zugleich und betont die Wichtigkeit solcher Orte als Bewahrer von Geschichte(n) und Identität.
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