A Near Thing Una cosa vicina
Szenenbild aus "A Near Thing" (© Lapazio Film)

Loris Giuseppe Nese [Interview]

Loris Giuseppe Nese ist ein italienischer Regisseur, Drehbuchautor und Animator. Nach seinem Abschluss an der Filmhochschule drehte er zahlreiche Kurzfilme, die auf internationalen Filmfestivals wie Locarno oder Sundance gezeigt wurden. Zu seinen Arbeiten gehören die Kurzfilme Those Bad Things (2018), Bad Mood (2020) und The Shift (2021). In vielen seiner Arbeiten vermischt er die Mittel des Dokumentarfilms mit animierten Szenen oder Abschnitten, womit er beispielsweise das Seelenleben von Menschen oder Gemeinschaften zeigen möchte. Diese Herangehensweise überzeugte die Festivaljury des Brooklyn Film Festival, die Nese mit dem AAMOD Preis auszeichneten für den gelungenen Umgang von Archivmaterial, Animation und mythologischer Erzählung in seinem Film Z.O. (Eastern Zone).

Sein neues Werk ist ebenfalls eine Mischung aus Dokumentarfilm und Animation. In A Near Thing geht er seiner eigenen Familiengeschichte nach. Wie der Junge im Film wuchs er in schwierigen Verhältnissen auf, die ihn nachhaltig prägten und ein Trauma hinterließen, dem er mittels seines Films nachgehen will.

Anlässlich der Vorstellung von A Near Thing auf den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig spricht Nese im Interview über seine Inspirationen als Regisseur, den Inszenierungsstil von A Near Thing und was der Zuschauer seines Filmes für sich mitnehmen soll.

Brian de Palma hat einmal gesagt, dass ein guter Filmemacher über Durchhaltevermögen, etwas Glück, einen Sinn für Humor und natürlich Talent verfügen muss, um wirklich gut zu sein. Abgesehen einmal von Talent, welchen dieser Aspekte findest du am wichtigsten?

Ironie oder Humor ist bestimmt der wichtigste Aspekt. Im Film kann man Ironie sehr unterschiedlich auslegen. Es kann zum Beispiel sein, dass der Regisseur das Publikum durch metalinguistische Mittel anregt, selbst teilzunehmen bei der Erstellung des Filmes. De Palma war ein Meister darin, dies Art von Ironie einzusetzen und nahm sich ein Beispiel an seinem großen Vorbild Alfred Hitchcock. Wenn die Hauptfiguren in Cocktail für eine Leiche über das Kino und neue Filme diskutieren, meint man, dass sie sich gerade über das neue Werk Hitchcocks unterhalten. Wenn ein Film es schafft Drama und Komödie, ernste und ironische Töne, miteinander zu vereinen und eine Balance zu finden, hat man als Regisseur gute Arbeit geleistet.

In einer Szene von A Near Thing sieht man im Hintergrund das Poster von Brian de Palmas Film Hi, Mom!. Ist er ein Vorbild für dich als Regisseur?

Als Teenager entdeckte ich das New Hollywood Kino und damit auch die Filme De Palmas. Die Filmemacher dieser Bewegung schafften es, ihre angeborene Neigung Bilder zu erzeugen in ihren Werken zu konzentrieren und strukturieren. Mir gefiel auch ihre postmoderne Art, da sich scheinbar jede Einstellung eines Filmes auf ein anderes, früheres Werk bezog. Diese Entdeckung brachte mich dazu, Filme genauer zu betrachten und zu studieren. A Near Thing ist ebenfalls ein Film darüber, wie man durch das Kino lernt, die Vergangenheit in einem neuen Kontext zu lesen und zu erkennen. De Palma schaffte es stets das Publikum anzusprechen, doch dabei ebenfalls komplexe Projekte zu realisieren, in denen er das Kino Spiegel der Wirklichkeit betrachtete. Hitchcock machte dies auch in all seinen Filmen.

Recht früh in A Near Thing sagst du, dass zu wissen, wann man den Schnitt ansetzt, die größte Herausforderung für einen Regisseur ist. War der Schnitt tatsächlich der schwierigste Teil von A Near Thing?

Durch den Schnitt entsteht der eigentliche Film erst überhaupt. Was zunächst lediglich eine Möglichkeit war, wird durch ihn konkretisiert. Zu entscheiden, was in den fertigen Film kommt und was nicht, ist eine große Herausforderung. Es geht um die Vision, die man verfolgt und wie man die Welt betrachtet. Der Schnitt eines Films ist ein politischer Akt. Für den Schnitt von A Near Thing arbeitete ich mit Chiara Marotta zusammen. Die schwierigsten, aber auch die ergiebigsten Momente bei unserer Zusammenarbeit sind, wenn wir auf einmal alles hinterfragen und uns erlauben, überrascht zu sein, wenn wir den Film durch den Schnitt überarbeiten und zu etwas völlig Neuem machen.

War es schwierig, deine Freunde und Familie davon zu überzeugen, bei A Near Thing mitzumachen?

Jeder Film ist eine kollaborative Aufgabe und A Near Thing war dies ganz besonders. Das fängt schon bei den ersten Gesprächen an und zieht sich bis zur Post-Produktion, wie wir ja gerade eben gesehen haben. Es ist nicht immer einfach und man muss viele Umwege einschlagen, bis man an sein Ziel kommt. A Near Thing zeigt diesen Prozess, wie die Charaktere sich verändern, zögern, sich genieren, ihnen Dinge schwer fallen oder sie einfach nur in die Kamera lächeln.

A Near Thing bedient sich bei den Konventionen des Dokumentarfilms, beinhaltet aber auch Szenen, in denen zum Beispiel Stop-Motion-Animation genutzt wird. War dieser visuelle Ansatz von Anfang an dein Plan?

Animation war von Beginn an Teil von A Near Thing. Interessant wird es aber, wenn man die verschiedenen Teile eines Projekt miteinander „kommunizieren“ lässt. Diesen Plan in die Tat umzusetzen ist die nächste Hürde, die man nehmen muss, denn nicht alles, was man sich im Drehbuch ausdenkt, wird man umsetzen können. Ich experimentiere gerne bei meinen Filmen. Wenn etwas nicht funktioniert, such ich nach neuen Lösungen. Dabei habe ich immer den erzählerischen Ansatz des Films im Auge und versuche ihn durch neue Ideen zu erweitern.

Du hast bereits über die Herausforderung bei Dreh von A Near Thing gesprochen, aber was waren die Momente, die du besonders positiv im Gedächtnis hast?

Eben habe ich ja bereits über den Schnitt von A Near Thing gesprochen. Ich hatte von Anfang an eine klare Vision, was ich erzählen und erreichen will. Jedoch muss man immer eine gewisse Distanz wahren, was schwierig ist bei einem Projekt, das von solch komplexen Emotionen handelt wie A Near Thing. Ich wollte mit klarem Verstand diese Gefühle, die Dissonanzen und das Abseitige einfangen. Bei einer solchen Geschichte meint man, es gebe nur zwei Extreme: die Glorifizierung des Bösen und des Verbrechens sowie dessen Verurteilung. Jedoch wollte ich in der Mitte bleiben, denn das ist meiner Ansicht nach die beste Repräsentation einer Lebenswirklichkeit, bei der man diese Widersprüche und Extreme täglich wahrnimmt.

Was möchtest du gerne, dass der Zuschauer von A Near Thing mitnimmt?

Ich möchte, dass die Zuschauer den Film ohne gedanklichen Überbau betrachten, sich von den ständigen Perspektivwechseln mitreißen lassen und sich dabei in eine unbequeme Position versetzen, in der sie alles hinterfragen – sogar sich selbst. Letztlich soll der Zuschauer einen Standpunkt zu den Themen und dem Geschehen entwickeln, denn das ist dringend notwendig.

Vielen Dank für das Gespräch.



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