Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes
© Ella Knorz / if... Productions, ERF - Edgar Reitz Filmproduktion

Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes

Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes
„Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes“ // Deutschland-Start: 18. September 2025 (Kino)

Inhalt / Kritik

Im Jahr 1704: Königin Sophie Charlotte von Preußen (Antonia Bill) ist unglücklich. Sie vermisst ihren einstigen Hauslehrer, den Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (Edgar Selge). Der gab ihr in der Jugend Antwort auf alle bedrängenden Fragen und nahm ihr die Ungewissheiten, die sie quälten. Mit Tränen in den Augen bittet sie ihre Mutter Sophie von Hannover (Barbara Sukowa) um ein Gemälde des Universalgelehrten. Wenigstens mit dem Abbild will sie in ihrer Melancholie Zwiesprache halten, ihm Fragen stellen und sich Leibniz‘ Antworten darauf ausmalen. Doch der herbeigerufene Hofmaler Delalandre (Lars Eidinger), ein eitler, hochnäsiger und selbstzufriedener Vertreter seiner Zunft, scheitert an der Aufgabe. Leibniz sei kein Freund der Kunst, wirft er dem Widerstrebenden vor. Der bejaht, sieht er sich doch ausschließlich als Freund der Wahrheit. Im zweiten Anlauf soll es die Niederländerin Aaltje van de Meer (Aenne Schwarz) besser machen, die zunächst als Mann verkleidet auftritt. Es entspinnt sich ein facettenreiches Ringen um Kunst und Philosophie, um Erscheinung und Wesen, um bloße Genauigkeit von Details oder um das Aufscheinen der wahren Person im Bild. Regisseur Edgar Reitz verhandelt im teils historisch verbürgten, teils fiktiven Kammerspiel die ganz großen Fragen unserer Existenz – und die der Kunst, also auch des Kinos.

Die Freude am Denken

„Wollen wir ein wenig miteinander philosophieren?“ Leibniz‘ Einladung zum ungezwungenen Gedankenaustausch gilt in erster Linie der Malerin Aaltje nach einer beendeten Porträtsitzung. Aber sie durchleuchtet auch wie ein Zentralgestirn den gesamten Film. Gewiss hat der Philosoph damals als Hauslehrer auch so mit der jungen Charlotte gesprochen, die ihn dank ihrer Wissbegier und ihres mathematischen Talents faszinierte. Sogar durch das satirisch zugespitzte Wortgefecht zwischen Hofmaler Delalandre und Leibniz blitzt die Utopie des herrschaftsfreien Diskurses, allerdings quasi als Negativbeispiel, wie man ihn verfehlt. Großen Raum bekommt das Vergnügen am vorurteilsfreien Denken dann in den Szenen zwischen Aaltje und dem Philosophen, der der jungen Frau auf Augenhöhe begegnet, sich durch ihre Ansichten verunsichern lässt und bereit ist, auf seine alten Tage von ihr noch etwas über das Wesen der Kunst zu lernen. Zugleich lädt auch der Film selbst sein Publikum ein, im Kinosaal auf Gedankenreise zu gehen und sich zum Philosophieren inspirieren zu lassen.

Das Verfertigen von Gedanken beim Zuschauen dreht sich jedoch nicht um abstrakte Theoreme und Systemgebäude, für die die Philosophie berüchtigt ist. Sonst würde man bei einem Lehrfilm oder einer Doku über einen der großen Denker landen. Theorie und Sinnlichkeit bilden in Edgar Reitz‘ Auseinandersetzung mit der Aktualität von Leibniz keine Gegensätze. Sie spiegeln sich ineinander, gehen ineinander über, bilden zusammen gelebtes Leben. Das hat schon damit zu tun, dass Leibnitz selbst kein reiner Denker war, sondern zugleich Praktiker. Er setzte seine Ideen in die Tat um, entwickelte zum Beispiel Rechenmaschinen, einen Klappstuhl und andere Dinge, die die Mühsal des täglichen Lebens erleichtern.

Zudem bewegt sich Malerin Aaltje quasi von Berufs wegen in einem Zwischenreich zwischen Mentalem und Materiellem, indem sie das, was ihrer Fantasie entspringt, auf die Leinwand bannt. Ihr tut es der Film gleich. Einerseits wurzelt er im Dialog, in der kunstvoll stilisierten und zugleich überraschend lebendigen Sprache (Drehbuch-Coautor ist der Schriftsteller Gert Heidenreich). Anderseits schwelgen die Bilder (Kamera: Matthias Grunsky) im Licht, messen die Spannung zwischen tiefem Schwarz und gleißendem Weiß aus und experimentieren mit der „Camera obscura“, einer Vorläuferin der Fotografie und damit auch des Kinos.

Übergänge statt Gegensätze

Die „fließenden Übergänge von allem zu allem“ in Leibniz‘ Denken haben es Edgar Reitz nach eigenem Bekenntnis angetan. „Etwa der Übergang vom Krieg zum Frieden, vom Denken zum Machen, vom Traum zum Wachsein, vom Lauten ins Stille, vom Schmerz zum Glück“, wie es der 92-Jährige in seinem Regiekommentar formuliert. Sie faszinieren ihn als Alternative zum sich immer mehr zuspitzenden Denken in Gegensätzen. Hier schwarz, da weiß; hier gut, da böse; hier Verschwörungsfanatismus, dort politische Korrektheit. Zugleich lässt der Heimat-Chronist, der aus Altersgründen auf die Unterstützung von Co-Regisseur Anatol Schuster setzte, gängige Theoreme von Leibniz mitschwingen, flicht auch Episoden aus dessen Leben ein, aber alles eher beiläufig, nicht als klassische Filmbiografie, sondern sich einordnend in das intime Kammerspiel zwischen Aaltje, Leibniz und dessen Assistenten Liebfried Cantor (Michael Kranz).

Implizit zieht Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes auch die Bilanz eines langen Lebens als Filmemacher. So wie Malerin Aaltje mit ihrem Gegenstand – der Persönlichkeit eines Menschen – ringt, wie sie versucht, seine Seele zu ergründen, wie sie sich in der Weitläufigkeit von Leibniz‘ Interessen verliert, um schließlich ihren „Stoff“ doch wie durch einen Geistesblitz zu bezwingen – genauso darf man sich Edgar Reitz vorstellen, wie er fast zehn Jahre versuchte, einen Film über Leibniz zu entwerfen, der in den ersten Drehbuchfassungen viel zu teuer geworden und an der Finanzierung beinahe gescheitert wäre. Und so darf man sich den Regisseur, der in seiner Autobiografie „Filmzeit, Lebenszeit“ darüber Zeugnis abgelegt hat, in allen seinen Projekten ausmalen: im unermüdlichen Bemühen, hinter der Oberfläche alltäglicher Zufälligkeiten zu etwas vorzudringen, was die alten Philosophen „Wahrheit“ nennen. Oder, um es weniger pathetisch auszudrücken: zum Wesen der Dinge.

Credits

OT: „Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes“
Land: Deutschland
Jahr: 2025
Regie: Edgar Reitz, Anatol Schuster
Drehbuch: Gert Heidenreich, Edgar Reitz
Musik Henrik Ajax
Kamera: Matthias Grunsky
Besetzung: Edgar Selge, Aenne Schwarz, Lars Eidinger, Barbara Sukowa, Antonia Bill, Michael Kranz

Bilder

Trailer

Interview

Wer mehr über den Film erfahren möchte: Wir hatten die Gelegenheit, mit Schauspielerin Antonia Bill ein Interview zu Leibniz zu führen.

Antonia Bill [Interview]

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Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes
fazit
„Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes“ malt sich die Begegnung von historisch verbürgten mit frei erfundenen Figuren humorvoll als Utopie der Freiheit aus. Der Universalgelehrte Leibniz lässt sich von einer jungen Malerin in Fragen der Kunst belehren und faszinieren, so wie er einst der künftigen Königin Charlotte die Liebe zum Denken beibrachte. „Heimat“-Regisseur Edgar Reitz gelang der Durchbruch zur Bewältigung seines Stoffs dieses Mal nicht in epochalen Zeitbögen, sondern in der Konzentration auf ein dichtes, intimes Kammerspiel.
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