Miroirs No. 3 (Kinostart: 18. September 2025) erzählt die Geschichte der jungen Pianistin Laura (Paula Beer), die in einen tödlichen Unfall verwickelt wird und anschließend bei der zurückgezogen lebenden Betty (Barbara Auer) und ihrer Familie unterkommt. Beide Frauen tragen dabei Traumata mit sich herum und finden in der Gesellschaft der jeweils anderen Halt. Zumindest meinen sie das zunächst. Doch je länger das Arrangement hält, umso komplizierter wird die Situation auch. Wir haben Regisseur und Drehbuchautor Christian Petzold beim Filmfest München 2025 getroffen, wo das Drama seine Deutschlandpremiere feierte. Im Interview sprechen wir über die Entwicklung des Films, den Umgang mit Traumata und Kunst als Bedienungsanleitung.
Könntest du uns etwas über die Entstehungsgeschichte von Miroirs No. 3 verraten? Wie bist du auf die Idee für diesen Film gekommen?
Das war, als wir Roter Himmel gedreht haben. Wir wollten die Szene drehen, als alle um einen Tisch herumsitzen und Paula Beer ein Gedicht von Heinrich Heine vorträgt. Ich habe mich jahrelang nicht getraut, Szenen zu drehen, in denen mehr als zwei oder drei Leute an einem Tisch sitzen, weil das sehr sehr schwer ist. Da kam so die kleine Idee, dass ich in meinem nächsten Film eine Familie zeigen möchte, die beim Abendessen sitzt. Es ist außerdem so, dass ich beim Drehen immer nur klassische Musik hören kann. Damals war das Miroirs No. 3 von Maurice Ravel. Ich habe den Schauspielern erzählt, dass es toll ist, wie das Stück dasselbe Thema immer wieder in leichten Variationen wiederholt, und mich gefragt, ob das beim Kino nicht auch so ist. Du hast Szenen, die sich mehrfach wiederholen, zumindest bei guten Filmen. Ich habe mich immer mehr in diese Filmtheorie hineingesteigert. Außerdem bedeutet „Miroir“ ja Spiegel. So kam ich auf die Idee, dass eine traumatisierte junge Frau auf eine traumatisierte ältere Frau trifft und ihre Traumata sich so weit spiegeln, dass sie eine gemeinsame Geschichte haben könnten.
Warum aber das Thema Traumata?
In dem Wort Traumata ist ja bereits Traum enthalten. Das Kino ist im Vergleich zum Fernsehen viel mehr im Traum verhaftet. Träume sind ganz selbstverständlich da. Sie brauchen keine Einschaltquoten, brauchen keine Werbung. Sie sind da und wollen erzählt werden und sind dabei fremd. Traumata sind auch etwas, das man nicht ganz begriffen hat. Sie arbeiten in einem und wollen erzählt werden, man findet aber nicht die Sprache dafür. Tolstoi sagte in Anna Karenina den berühmten Satz: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“. Ist nicht jedes Trauma auch etwas Einzigartiges? Deswegen glaube ich, dass jeder Film Traumata enthalten muss, selbst Komödien. Ich habe mir vor Kurzem wieder Sein oder Nichtsein von Ernst Lubitsch angeschaut, der mit dem Trauma eines Schauspielers beginnt, immer nur Nebenrollen spielen zu dürfen. Und wir haben das Trauma des Hauptdarstellers, der mitansehen muss, wie jemand während seines Monologs die Vorstellung verlässt, um mit seiner Frau zu schlafen. Traumata sind die Grundlage des Kinos.
Wir lernen in deinem Film eine Familie kennen, bei der in mehrfacher Hinsicht etwas kaputt ist – konkret und im übertragenen Sinn. Sie versucht zwar schon, das zu reparieren. Warum schafft sie das nicht?
Weil sie auch ihre Seele nicht repariert bekommt. Bei Dreharbeiten ist es so, dass du zwei Monate in einer außergewöhnlichen Situation bist, in der du dich öffnest und sehr intensiv miteinander arbeitest. Gleichzeitig wirst du beköstigst und wirst angezogen. Bevor es dann wieder in den Alltag zurückgeht, bauen sich viele eine Art Schutzgeschichte auf. Julia Hummer meinte damals nach Innere Sicherheit, dass sie erst einmal alle Dübel und Schrauben sortiert, wenn sie nach Hause kommt. Andere streichen vielleicht ein Zimmer. Auch das ist Reparatur, weil es dafür steht, das Leben wieder irgendwie unter Kontrolle zu bekommen. Das Trauma der Figuren in Miroirs No. 3 sitzt aber so tief, sie können reparieren von morgens bis abends, sie kommen nicht zum Urzustand zurück. Ich musste aber auch einmal daran zurückdenken, wie meine Tochter mit mir James Bond angeschaut hat, weil sie nicht schlafen konnte. Ich kann damit nicht viel anfangen, sie fand den Film aber toll. Als ich sie fragte warum, meinte sie, dass Bond nie aufräumen muss. Es gibt ein Kino der Zerstörung, wo es richtig kracht und scheppert und niemand räumt auf. Und es gibt ein Kino der Aufräumarbeiten. Das ist oft ein dokumentarisches Kino, das zeigt, was übriggeblieben ist und wie schwierig es ist, etwas wieder zu reparieren. Aber es findet sich eben auch ein fiktionales Kino. „Rächer der Unterwelt“ zum Beispiel, nach Hemingway. Der ganze Film handelt davon, dass ein Mann kaputt ist und sich nicht mehr zu reparieren weiß. Reparieren bedeutet, sich mit dem Gegenstand auch auseinandersetzen zu müssen.
Und kann ein solches Reparationskino dem Publikum helfen, selbst zu reparieren? Oder kann es nur darauf aufmerksam machen, einmal nachzuschauen?
Das ist die Katastrophe in Deutschland, dass man hier glaubt, solche Reparationsfilme müssen eine Gebrauchsanweisung sein. Das Kino schaut den Leuten gern bei der Arbeit zu und wie sie versuchen, etwas in Ordnung zu bringen. Diese Empathie ist glaube ich das Schönste am Kino. Wenn dann aber Reparaturanleitungen daruntergemischt werden, fängt das Kino an entsetzlich zu werden. Dann transportieren die Charaktere nur etwas, was vorher schon da war. Es entwickelt sich nichts.
Dass deine Figuren bei der Reparatur scheitern, hängt auch damit zusammen, dass sie auf die falsche Art trauern. Gibt es aber überhaupt eine richtige Art zu trauern?
Wahrscheinlich ist schon die Sehnsucht danach richtig zu trauern falsch. Die Figuren wiederholen sich ständig, immer in kleinen Variationen, und sind darin gefangen. Wenn du dir die Szenen am Tisch anschaust: Die sind sich immer ähnlich und doch leicht anders. Diese kleine Differenz ist die Erzählung. Du musst es schaffen, dieser Wiederholung zu entgehen und dich zu befreien. Das Nachdenken darüber, das Erinnern an vergangene Situationen und das Begreifen, das ist das Leben.
Die Themen, die du behandelst, sind schon sehr realistisch. Gleichzeitig hat dein Film eine märchenhafte Stimmung. Weshalb hast du dich dafür entschieden?
Wenn du deinen Kindern die Märchen der Gebrüder Grimm vorliest, musst du immer ein bisschen vorausschauend sein, weil es schon sehr harte Stellen darin gibt, die du Kindern nicht zum Einschlafen vorlesen solltest. Die Kinder denken immer, Märchen seien Walt Disney. Dabei ist das echt harter Stoff. Ein Märchen, mit dem ich meine Kinder traumatisiert habe, ist Das Totenhemdchen. Das ist ein Märchen über eine Frau, deren Tochter stirbt, die das aber nicht einsieht und jeden Tag das Abendessen wieder hinstellt. Dann kommt das Kind aus dem Grab in seinem fleckigen Hemdchen und isst zu Abend. Irgendwann sagt die Tochter zu ihrer Mutter, dass sie aufhören muss, um sie zu weinen, weil sie sonst nicht in den Himmel kann. Erst als die Mutter aufhört, jeden Tag das Abendessen zu machen, kann sie loslassen. Das ist natürlich ein Lehrstück aus einer Zeit, als viele Kinder gestorben sind und auch durch den Dreißigjährigen Krieg Gewalt und Tod allgegenwärtig war. Das Märchen ist quasi die Geschichte der Mutter in meinem Film, weil sie nicht loslassen kann.
Als Setting hast du wieder ein abgelegenes Haus gewählt. Warum hast du das getan? Die Geschichte ist so universell, dass sie auch in einer Stadt hätte spielen können.
Die Geschichte ist schon recht kompliziert, wenn eine Frau eine Fremde bei sich aufnimmt und zu ihrer Tochter macht, damit sie sich heilen kann. Und umgekehrt, dass eine eigentlich erwachsene Frau sich noch einmal zu einer Tochter machen lässt, um noch einmal erwachsen werden zu können. Das komplizierteste Genre überhaupt ist der Western. Du hast dort die kompliziertesten Geschichten, die dann in einem ganz einfachen Setting erzählt werden. Du hast eine Straße, einen Saloon, vielleicht eine Farm. Mehr brauchst du nicht. Ich glaube, man muss eine einfache Form finden, um die Komplexität zu erzählen. Und das wollten wir eben auch und haben uns deshalb an Western orientiert.
Dein Film ist also eine Mischung aus Drama, Märchen und Western?
Stimmt. Wenn man das hört, glaubt man, der Typ hat einen an der Waffel. Aber es ist so.
Du hast vorhin über Musik gesprochen. Es gibt eine Schlüsselszene, in der sich Laura ans Klavier setzt und damit etwas auslöst. Kann Kunst Menschen zusammenbringen?
Die Szene ist eigentlich sehr viel länger und ich musste sie kürzen. Laura sitzt in dem Moment mit dem Rücken zu der Familie und wird zur Tochter. Sie wissen alle, dass das furchtbar falsch ist und sind erschüttert. Das Gegenstück ist die Szene, wenn Laura und Max vor der Werkstatt sitzen und ein Lied von Frankie Valli hören. Sie fangen an zu lachen, weil sie nicht wissen, was sie machen sollen. Das ist ein Moment von Freiheit, weil sie aus allem herauskommen. Diese Musik gehört nur ihnen und hat nichts mit der Geschichte um die tote Tochter und den Traumata zu tun. Einen Moment lang dürfen sie sie selbst sein.
Letzte Frage: Kann Kunst dabei helfen, die Welt zu verstehen und zu erklären, sowohl als Kunstschaffende wie auch als Publikum?
Auf jeden Fall. Wenn du aber versuchst, mit deiner Kunst die Welt zu verändern, kommt meistens schlechte Kunst dabei heraus. Du musst da die Zügel etwas locker lassen.
Vielen Dank für das Interview!
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