Mascha Schilinski bei der Deutschlandpremiere von "In die Sonne schauen" beim Filmfest München 2025 (© Sophie Mahler / Filmfest München)

Mascha Schilinski [Interview]

Sie gilt als das Wunderkind des deutschen Films. Völlig überraschend wurde Mascha Schilinskis zweiter Spielfilm in den Wettbewerb von Cannes eingeladen. Viele Kritiker schätzten In die Sonne schauen (Kinostart: 28. August 2025) sogar als heißen Favoriten auf die Goldene Palme ein. Es wurde dann der große Preis der Jury, auch das ein sensationeller Erfolg. Der Film wagt sich auf erzählerisches und visuelles Neuland vor. Assoziativ verknüpft er die Leben von vier Mädchen, die alle auf einem Bauernhof in der Altmark groß werden, allerdings zu ganz unterschiedlichen Zeiten. Alma (Hanna Heckt) wächst in den 1910er Jahren auf, Erika (Lea Drinda) 30 Jahre später, Angelika (Lena Urzendowsky) in der DDR der 1980er und Nelly (Zoë Baier) in unserer Gegenwart. Ihre Schicksale verflechten sich zu einer einzigen Zeitebene und bilden ein teils grausames, teils lebensfrohes und von Geheimnissen durchzogenes Mosaik. Beim Filmfest München stand Mascha Schilinski für Interviews zur Verfügung. Wir sprachen mit ihr über die Erlebnisse in Cannes, über unbewusste Traumata, die an die nächsten Generationen weitergegeben werden, sowie über die Besonderheiten des kindlichen Blicks.

Ihr Film war im Wettbewerb von Cannes, beim bedeutendsten Filmfestival der Welt, ein riesiger Überraschungserfolg. Wie haben Sie diese Tage erlebt?

Es war wie ein Rausch. Die Tage waren so voll mit Presseterminen und Veranstaltungen, dass ich abends schon nicht mehr wusste, was morgens war. Trotzdem konnte ich es total genießen, weil es so schöne, auch absurde, Szenerien und Gleichzeitigkeiten gab.

Sie schreiben in Ihrem Regiestatement, dass Sie sich schon als Kind gefragt haben, wer vor Ihnen in der Berliner Altbauwohnung lebte, in der sie aufwuchsen. Haben Sie sich das nur gefragt oder haben Sie sich bestimmte Dinge ausgemalt oder vorgestellt?

Ich habe mir einiges ausgemalt und konnte mich in meine Vorstellungswelten richtig hineinsteigern. Es gab tragische Geschichten, die ich mir überlegte, aber auch fröhliche. Ich suchte nach Verbindungen, die ich vielleicht mit den Vorbewohnern hatte. Zum Beispiel, ob mein Kinderzimmer vorher auch ein Kinderzimmer war. Und wie es diesen Kindern ging.

Die Fantasie ging also früh in diese Richtung, die auch im Film eine Rolle spielt?

Sie ging in alle Richtungen. Fantasie war in meinem Leben schon immer da.

In Interviews haben Sie erzählt, dass die Idee zu dem Film entstand, als Sie selbst und Ihre Co-Autorin Louise Peter Zeit in dem Bauernhof in der Altmark verbrachten, der auch Schauplatz des Films wurde. Hatten Sie das Gefühl, es spukt in diesen Gemäuern und das Gebäude möchte Ihnen etwas erzählen?

Um Spuk ging es nicht. Aber wir haben eine Fotografie aus den 1920er Jahren gefunden. Diese Aufnahme war ungewöhnlich für die Zeit, weil sie mehr wie ein Schnappschuss wirkte und nicht wie eine Inszenierung, was damals üblich gewesen wäre. Da waren drei Frauen abgebildet, die an exakt derselben Stelle standen wie wir. Der ganze Hof sah noch identisch aus wie auf dem Foto. Die Frauen haben die vierte Wand durchbrochen, indem sie direkt in die Kamera blickten und damit uns in die Augen schauten. Da, wo damals der Heuwagen vor der Hauswand stand, war jetzt unser altes, klappriges Auto.

Was hat dieses Erlebnis in Ihnen ausgelöst?

Uns hat die Gleichzeitigkeit zwischen diesen Frauen und uns berührt und fasziniert. Es stand die Frage im Raum, wer die drei Frauen sind, was sie generell erlebt und betrachtet haben. Und auch, was sie exakt in dem Augenblick gesehen haben, als sie in die Kamera schauten. Gleichzeitig stieg in uns eine Melancholie über die eigene Vergänglichkeit hoch und auch das Wissen, dass diese Frauen ebenfalls um ihre Sterblichkeit wussten, wie wir alle. Auch sie hatten Vorfahren, die nicht mehr lebten. Das war der Startschuss, Gedanken und Gefühle, über die wir schon lange einen Film machen wollten, an diesem Ort anzusiedeln. Es ging uns zum einen darum, wie die transgenerationale Weitergabe von Traumata funktioniert. Warum wir also aus bestimmten Kreisläufen und Wiederholungen nicht ausbrechen können. Und zum anderen ging es uns um feinstoffliche Dinge, zum Beispiel darum, wie Scham funktioniert und warum wir oft vom eigenen Körper verraten werden, etwa beim Erröten. Oder darum, warum wir bestimmte kleine Dinge niemandem erzählen. Welche Geheimnisse nehmen wir mit ins Grab? Und warum wirken ausgerechnet diese Geheimnisse in den nächsten Generationen weiter und versuchen dort, wie Geister erlöst zu werden, und zwar von den Menschen, die später leben?

Haben Sie solche Sachen, dass Dinge in uns weiterwirken, von denen wir gar nichts wissen können, weil sie etwa vor unserer Geburt passiert sind, in der Recherche über diesen Ort entdeckt? Oder kennen Sie das auch aus eigener Erfahrung?

Beides. Meine Co-Autorin und ich haben viel über die Altmark recherchiert und über den konkreten Ort, an dem wir drehten. Wir haben uns dabei dem Vorgefundenen mit unseren Fragen zur transgenerationalen Weitergabe von Traumata eher phänomenologisch genähert und wollten das nicht psychologisieren. Uns hat fasziniert, wie bestimmte Sachen im Leben von uns allen vorkommen, wir aber keine Worte dafür haben, weil sie aus unserem Kulturkreis eigentlich ausgeschlossen werden. Es gibt dafür Beispiele, die jeder kennt. Etwa wenn man ein paar Tage intensiv an jemanden denkt und plötzlich trifft man diese Person durch Zufall oder wird von ihr angerufen. Im größeren Rahmen gibt es solche Phänomene eben auch. Das hat uns interessiert, ohne jeden esoterischen Kontext, sondern ganz nüchtern betrachtet.

Das Unbewusste und das Feinstoffliche sind ja erst einmal nicht sichtbar. Welche filmischen Mittel mussten Sie anwenden oder auch neu kreieren, um dafür Bilder zu finden?

Beim Schreiben hatte ich die Bilder schon im Kopf. Ich hatte eine klare Vorstellung und Empfindung davon, wie das aussehen sollte und wie sich der Film anfühlen muss. Weil wir wussten, dass wir an dem Ort, an dem wir geschrieben haben, auch drehen werden, konnten wir jede Szene quasi in den vorhandenen Raum schreiben. Wir wussten dadurch sehr genau, wie sich die Szene entwickeln würde. Aber die große Herausforderung war, dass wir nicht genug Geld hatten, um auf 16-Millimeter-Filmmaterial zu drehen. Das wollten mein Kameramann Fabian Gamper und ich sehr gerne, um eine bestimmte Körnigkeit und Stofflichkeit zu erzielen. Aus finanziellen Gründen mussten wir aber digital drehen. Deshalb hat Fabian Gamper einen Look entwickelt, der dem ursprünglichen Vorhaben zum Verwechseln ähnlich sieht. Dadurch hat er die Haptik ermöglicht, nach der wir gesucht haben. Dass man also Schichten und Schleier hat, die sich über die Erinnerung legen. Wir haben außerdem lange nach einer Übersetzung für das Gefühl gesucht, wenn man an eine Erinnerung nicht mehr herankommt. Dafür hat Fabian dann die Lochkamera entdeckt, mit der wir viel gedreht haben. Man erhält dadurch eine bestimmte Unschärfe. Auch mit ganz alten Objektiven haben wir gedreht. Und außerdem mit der Steadycam, für einen schwebenden Blick. Insgesamt haben wir sehr viel experimentiert und versucht, unser kleines Budget so kreativ wie möglich zu nutzen.

Gab es filmische Vorbilder?

Wir haben uns ganz stark von Fotografien inspirieren lassen, weniger von Filmen. Eine riesige Referenz waren die Fotografien von Francesca Woodman, die eine luzide Leuchtkraft und dieses Geisterhafte haben, was wir auch für den Film wollten. Zudem haben wir mit Fotografien gearbeitet, die aus diesem Dorf oder dieser Umgebung stammen, über viele Jahrzehnte hinweg. Ich schaute mir auch Videos aus der LPG-Zeit der 1980er Jahre an. Wir haben einfach geguckt, wie die Menschen aussahen, wie sie geredet und sich bewegt haben, welche Farben eine Rolle spielten.

Sie haben in Interviews gesagt, dass sich der Stoff gegen einen Plot gesträubt habe. Wie muss man sich das vorstellen? Warum wollten Sie zum Beispiel die Geschichte von der Sterilisation der Mägde nicht in ein klassisches Sozialdrama packen?

Das hat mich nicht interessiert. Ich hatte ganz andere Fragen an den Film – Fragen, die ich mir nicht beantworten konnte und auf die wir zum Teil noch immer keine Antwort gefunden haben. Wir haben gemerkt, dass es uns nicht darum geht, was dort an diesem Ort gewesen ist. Sondern darum, was gewesen sein könnte. Vor allem geht es um das Erinnern an sich. Darum, wie unzuverlässig Erinnerungen sind, wie unstet, wie fluide und veränderbar. Und dass trotzdem die Essenz von etwas, wie zum Beispiel einer Lüge, in dem Gefühl besteht, das sich in uns eingespeist hat. Das ist das, was bleibt und was sich für immer durchdrückt. Deswegen gibt es auch kaum Dialoge im Film. Denn Worte sind etwas, an das wir uns recht bald nicht mehr erinnern. Zum Beispiel werde ich mich nicht mehr an das erinnern, was Sie eben gesagt haben. Aber ich kann mich vielleicht an ein bestimmtes Gefühl oder an eine Atmosphäre erinnern, die während des Gesprächs herrschte oder die von einem Menschen oder von einem Raum ausgeht. Mit diesen Annahmen über Erinnerung haben wir versucht, uns dem Stoff zu nähern.

Es gibt viele erwachsene Frauen in diesem Ensemblefilm. Aber im Mittelpunkt stehen vier Kinder und Mädchen, ähnlich wie in ihrem Erstling Die Tochter. Woher rührt dieses Interesse am subjektiven Blick junger Frauen und Mädchen?

Mich fasziniert am Kinderblick immer wieder, dass er so unverstellt auf die Welt schaut. Kinder versuchen, sich in der gemachten Welt, in die sie hineingeboren werden, zu orientieren. Dabei entlarven sie ganz schnell Leerstellen und sehen sofort, wenn etwas nicht stimmig ist. Kinder haben eine halluzinatorische Kraft, Dinge aufzudecken, für die es keine Worte gibt und die Erwachsene zu verstecken versuchen. Junge Menschen entlarven so schön die Absurditäten, in die wir Erwachsenen uns verstrickt haben. Sie enttarnen die gemachte Wirklichkeit, in der wir alle unser Glück finden wollen, was aber unmöglich ist, weil es das Regelwerk, das wir zu diesem Zweck aufgestellt haben, so nicht gibt. Das haben wir ja alles erfunden. Dieses Aufbrechen des Erfundenen interessiert mich am kindlichen Blick.

Zur Person
Mascha Schilinski wurde 1984 in Berlin geboren. Zunächst arbeitete sie in einer Kinder- und Jugendcasting-Agentur für Film und Fernsehen in Potsdam Babelsberg, bevor sie mehrere Jahre auf Reisen ging und Kurzgeschichten schrieb. Sie absolvierte die Masterclass für Drehbuchschreiben an der Filmschule Hamburg und arbeitete als Autorin. Anschließend begann Mascha Schilinski ihr Regiestudium an der Filmakademie Baden-Württemberg. Ihr preisgekrönter Kurzfilm Die Katze entstand bereits im zweiten Studienjahr. Im dritten Studienjahr drehte sie mit Die Tochter ihren ersten Spielfilm. Der Film mit Helena Zengel in der Hauptrolle feierte 2017 seine Weltpremiere auf der Berlinale in der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ und wurde für den GWFF Award – Best First Feature nominiert. Die Tochter lief auf zahlreichen Filmfestivals, wurde mehrfach international ausgezeichnet und kam 2018 in die Kinos.



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