
Wer hat nicht schonmal davon geträumt, alles hinter sich zu lassen, die Arbeit, die Menschen und Verpflichtungen, um woanders noch einmal ganz von vorne anfangen zu können? Je stärker wir eingebunden sind, umso größer ist oft die Sehnsucht nach Freiheit und mehr Selbstbestimmung. Für die meisten bleibt diese Sehnsucht ein Traum, der nicht in Erfüllung geht. Die wenigsten fassen den Beschluss, es überhaupt zu versuchen, auch weil nicht klar ist, wie das mit dem Aussteigen eigentlich geht. Wie ist das mit der Freiheit? Was muss man dafür tun? Ausgsting. gibt auf diese Fragen keine eindeutige Antwort, obwohl ausgiebig danach gesucht wird. Dafür stellt der Dokumentarfilm einen Mann vor, der sich diesen Traum tatsächlich erfüllt hat.
Ein Leben auf dem Wasser
Genauer lernen wir Wolfgang „Gangerl“ Clemens kennen. Dieser hatte vor über 40 Jahren genug, brach die Zelte ab und lebt heute auf einem Segelboot, mit dem er durch die Weltgeschichte schippert. Dass er inzwischen über 80 ist, in einem Alter, in dem viele nicht mehr in der Lage sind, sich selbst zu versorgen, macht seine Lebensgeschichte noch beeindruckender. Der Protagonist von Ausgsting. schert sich nicht darum, wie „normale“ Menschen das machen. Er macht sein eigenes Ding, so gut er es eben kann, so lange er es kann. Regisseur Julian Wittmann hatte fünf Jahre zuvor in Ausgrissen! berichtet, wie er selbst mit seinem Bruder auf Mopeds durch die Welt fährt, auf der Suche nach neuen Erfahrungen. Insofern verwundert es nicht, dass ihn der deutlich ältere Bayer mit seiner Odyssee beeindruckt und er sich von diesem Antworten erhofft.
Diese wird es aber, so viel sei vorab verraten, gar nicht geben. Zwar hat Gangerl Vorträge zu seinen Reisen gehalten, Videos gedreht und Bücher geschrieben. Tatsächlich mitteilsam ist er aber nicht, hat dem Filmteam gestattet, ihn auf seinem Boot zu begleiten, will mit diesem aber gar nicht viel zu tun haben. Man hätte meinen können, dass Ausgsting. ein Film der großen Ideen ist. Falls der grantige Senior diese hat, behält er sie aber für sich. Dafür meldet sich Wittmann immer wieder per Voiceover zu Wort, denkt über die Reise nach, über sich, über die Suche nach einem Glück, das es so vielleicht nirgends geben kann. Das hier ist einerseits die Dokumentation einer konkreten Reise, zugleich aber auch eine Art Tagebuch des Filmemachers, der immer wieder seine Gedanken mit dem Publikum teilt.
Spannung und Sinnsuche
Die Mischung aus äußerer und innerer Reise ist bei Dokumentarfilmen zwar keine Seltenheit, unzählige Beiträge haben dies in den letzten Jahren so gemacht. Ungewöhnlich ist aber, dass es hier zu dieser Zweiteilung kommt, der Beobachter und der Reisende zwei verschiedene Menschen sind – und sich immer weiter voneinander entfernen. Wer von einem solchen Film Objektivität und journalistische Distanz erhofft, braucht es bei Ausgsting. also gar nicht erst zu versuchen. Das hier ist ebenso persönlich wie philosophisch, wenn zwischen konkreter Lebenssituation und universellen Themen vermittelt werden soll. Die Verbindung klappt mal besser, mal schlechter. Dem Film selbst hat es nicht geschadet, da gerade auch der Kontrast für Spannung sorgt und diverse komische Auseinandersetzungen.
Eine Anleitung zum Aussteigen ist die Doku, die auf dem Filmfest München 2025 Premiere feierte, dabei nicht. Eine zum Glücklichsein sowieso nicht. Tatsächlich wird es nicht wenige geben, die nach dem Anschauen von Ausgsting. das Gefühl haben, weniger Gewissheiten zu haben als zuvor. Zumal man eben auch über den Protagonisten gar nicht so viel erfährt, sein aktuelles Innenleben bleibt ebenso nebulös wie die Beweggründe für seinen Ausstieg. Dafür darf sich das Publikum auf tolle Landschaftsaufnahmen freuen, die während der mehrmonatigen gemeinsamen Fahrt entstanden sind. Auch wenn man sich im Anschluss an den Film nicht sicher ist, ob das jetzt nachahmenswert sein soll oder nicht, es geht doch eine gewisse Faszination von dem Mann und seinem lebenslangen Abenteuer aus, selbst wenn dieses nie so verinnerlicht wird, wie es der Regisseur gern hätte, der sich zunehmend die Zähne an ihm ausbeißt.
OT: „Ausgsting.“
Land: Deutschland
Jahr: 2025
Regie: Julian Wittmann
Drehbuch: Julian Wittmann
Musik: Claudio Donzelli
Kamera: Markus J. Schindler
Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.
(Anzeige)





