
In einer Gesellschaft des Verschweigens die Stimme zu erheben und anzuklagen, ist eine mutige Tat. Mehr noch als Mut erfordert sie die Einsicht, dass das eigene Leben vielleicht nie wieder so sein wird wie zuvor, besonders dann nicht, wenn Gewalt, Verbrechen und Korruption die bisherige Realität prägten. In einem Interview über seinen internationalen Bestseller Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra beschreibt Autor Roberto Saviano, dass er sich der Gefahr bewusst war, wenn er darlegt, wie das organisierte Verbrechen die Lebensrealität vieler Menschen – auch außerhalb seiner Heimat Italien – prägt. Dennoch habe er weniger Angst vor dem Tod, viel eher fürchte er, dass sein Leben nie wieder normal werden würde, erklärt er weiter.
Auch im Leben von Drehbuchautor und Regisseur Loris Guiseppe Nese hat das Verbrechen einen bleibenden Eindruck hinterlassen. In seiner Dokumentation Last Time befasste er sich bereits mit der dunklen Vergangenheit seiner Familie, doch in A Near Thing, der aktuell auf den Filmfestspielen in Venedig zu sehen ist, geht er noch einen Schritt weiter. Seine neue Dokumentation entsprang dem Bedürfnis, das Chaos in seinem Leben zu zeigen, das von Zweifel über die eigenen Biografie, die Familie und generell die Welt definiert ist. Das Kino wird zur Möglichkeit, Fragen zu stellen – nicht um Antworten zu finden, sondern um Bruchstücke einer Wahrheit zu berühren, die es vielleicht nie geben wird.
A Near Thing ist der Blick auf das Chaos und die Unsicherheit in einem Leben – ausgelöst durch eine unbeschreibliche Gewalttat. Nese nutzt neben den für die Dokumentation typischen ästhetischen und narrativen Mitteln auch Aspekte wie Animation, Stop-Motion, Überblendungen und sogar an Computerspiele angelehnte Bilder. A Near Thing ist daher durchaus eine Herausforderung für sein Publikum, auch weil die Emotionen, von denen Nese spricht, komplex und nicht einfach zu beschreiben sind. Die verschiedenen Kapitel stehen dabei sinnbildlich für die unterschiedlichen Etappen einer Reise, bei der es weniger um die Fakten an sich geht, sondern mehr um eine Suche. Nese scheint sich selbst zu suchen, muss dafür aber bei einer Zeit und einem Moment einsetzen, der für ihn wie auch seine Familie eine Tragödie war.
„Wir sind nicht länger unschuldig.“
Die Bemerkung des Verleihs, dass Neses Dokumentation bisweilen wie ein Musikvideo oder gar ein Horrorfilm wirkt, sollte man ernst nehmen. In einer Szene schaut die Kamera den Flur einer Wohnung hinunter, als auf einmal das Licht ausgeht und eine dunkle Gestalt am Ende des Ganges erkennbar wird. Im nächsten Bild ist sie schon etwas näher gekommen, sodass das Szenario bedrohlich und beängstigend wirkt. Eine andere Szene ist eine Stop-Motion-Sequenz, in der wir Puppen sehen, die von einer Art Blaulicht, wie es bei Notrufwagen oder der Polizei üblich ist, zu kommen scheint. Das Kindliche des Bildes wird überschattet von der Tragik, die sich durch das Licht andeutet, ähnlich wie die vorherige Szene das Banale einer an sich austauschbaren Wohnung zu etwas Bedrohlichem macht.
Das sind zwei Beispiele für die experimentellen, experimentellen und vielschichtigen Bild- und Klangkonstruktionen, die A Near Thing ausmachen. Viele Filmemacher nutzen das Medium – oftmals bei ihren Debütfilmen – zur Sinnsuche in der eigenen Biografie und damit der Familie. Nicht selten wird dies zu einer etwas peinlichen Nabelschau, aber Nese entgeht dieser Falle dadurch, dass seine Geschichte universell für das Trauma einer Familie gelten kann. Das Trauma hält nach wie vor an, weshalb es keine Verarbeitung geben kann, nur das Stellen von Fragen, von denen Nese sehr viele hat. Das Schweigen, das ihm entgegengebracht wird, füllt er sozusagen mit Sequenzen, die sich dem Chaos annähern können, das dieser Momente der Gewalt – die Ermordung des Vaters sowie die Verbrechen, die seine Familie betreffen – angerichtet haben.
OT: „Una cosa vicina“
Land: Italien
Jahr: 2025
Regie: Loris Giuseppe Nese
Drehbuch: Loris Giuseppe Nese
Musik: Raffaele Caputo
Kamera: Loris Guiseppe Nese
Ihr wollt mehr über den Film erfahren? Wir hatten die Gelegenheit, ein Interview mit Regisseur Loris Giuseppe Nese zu führen und mit ihm über A Near Thing zu sprechen.
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