Vermiglio
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Vermiglio
„Vermiglio“ // Deutschland-Start: 24. Juli 2025 (Kino) // 4. Dezember 2025 (DVD / Blu-ray)

Inhalt / Kritik

Das Südtiroler Bergdorf Vermiglio im Jahr 1944: Selbst in den abgeschiedenen Tälern der Alpen hinterlässt der zu Ende gehende Zweite Weltkrieg seine Spuren. Zwar nicht in Form von Bombenhagel oder heranrückenden Truppen. Sondern durch das, was fehlt. Ehefrauen bangen um ihre Männer, Schwestern um ihre Brüder. Aber eines Tages bekommt die vielköpfige Familie des Bauern und Dorflehrers Cesare (Tommaso Ragno) die Auswirkungen der Kampfhandlungen noch direkter zu spüren. Zwei Deserteure suchen Schutz in der abgelegenen Gegend. Der eine, Attilio (Santiago Fondevila Sancet), stammt aus Vermiglio und wird mit großer Freude empfangen. Der andere, Pietro (Giuseppe De Domenico) ist Sizilianer und stößt auf gemischte Reaktionen. Doch Cesare, durch Stellung und Auftreten eine Autoritätsperson, setzt durch, dass der Ex-Soldat in einer Scheune Unterschlupf findet. Für die Kinder und Jugendlichen des Dorfes ist der Fremde eine Attraktion. Besonders für Lucia (Martina Scrinzi), die älteste Tochter des Dorflehrers. Schon ihr erster Blick verrät brennende Sehnsucht. Bald werden die beiden heiraten. Eine schicksalsschwere Entscheidung von höchstem Glück und katastrophaler Enttäuschung in Maura Delperos berührender Familiensaga.

Eingebettet in die Gemeinschaft

Ein Bett für sich hat hier keiner. Lucia schläft zu dritt mit ihren jüngeren Schwestern Ada (Rachele Potrich) und Flavia (Anna Thaler). Der älteste Bruder Dino (Patrick Gardner) teilt sich das Nachtlager mit Pietrin (Enrico Panizza), dem Jüngsten der zehnköpfigen Familie. Die Menschen hier sind im wahrsten Sinne des Wortes „eingebettet“ in ihre Gemeinschaft. Sie sind aufeinander angewiesen in guten wie in schlechten Zeiten. Jeder muss Rücksicht nehmen. Aber jeder hat auch seine Geheimnisse und Zufluchtsorte. Und sei es nur ein kleiner Spalt hinter einem Schrank, wo Ada voller Schuldgefühle ihre aufkeimende Sexualität auslebt. Das Verhältnis zwischen Glück und Enge, zwischen Solidarität und Individualismus könnte man wohl anhand jeder vormodernen Gesellschaftsform erkunden. Aber Regisseurin Maura Delpero (Maternal, 2019) führt uns in ihrem zweiten Spielfilm an eine Zeitenwende. Die bäuerlichen Traditionen, der Einfluss der Kirche, die Selbstverständlichkeiten patriarchaler Herrschaft sind noch in voller Kraft. Doch das Ende des Krieges wird einen Neubeginn bringen. Man wird sich anders orientieren müssen.

So erging es jedenfalls dem Vater der Regisseurin selbst, der mit seiner Familie aus Vermiglio wegzog. Nach seinem Tod träumte die Filmemacherin von ihm. Sie sah ihn zurückgehen in sein Herkunftsdorf und begegnete seinem sechsjährigen Ich. In ihrem Regiestatement beschreibt sie, wie das Erkunden der eigenen Wurzeln zum Ausgangspunkt des Filmes wurde. Maura Delpero, Enkelin des Dorflehrers, kehrte in das Haus ihrer Großeltern zurück, sah die Familienfotos mit neuen Augen, erinnerte sich an den Geruch der Milch in der Küche der Großmutter, und sprach mit denen, die dageblieben sind. Daraus speist sich die Haltung dieser Familiensaga: verstehen wollen, nicht urteilen. Sie führt zu einem zärtlichen Blick auf widersprüchliche Charaktere, auf verloren gegangene Nähe, auf die Schönheit und Armut des Tales – und auf eine Katastrophe, die die ganze Familie erschüttert.

Poetisch überhöhte Höhe- und Wendepunkte

Das Nebeneinander von Realismus und Poesie, von Rauheit und Erhabenheit der Bergwelt schlägt sich in der Kameraarbeit von Mikhail Krichman nieder, der vor allem für seine langjährige Zusammenarbeit mit Andrey Zvyagintsev bekannt ist, etwa bei Loveless (2017). Entsättigte, fast ins Schwarz-Weiß tendierende Farben verbinden sich mit strahlendem Licht und ins Traumhafte changierende Panoramen, die die Berge in leuchtendes Blau tauchen. Der Kitsch von Postkartenidyllen ist hier genauso fern wie der düstere Naturalismus schmuddeliger Sozialdramen. Die Kamera trumpft auch keineswegs mit immer neuen Höhepunkten auf, obwohl fast jede der ruhigen Einstellungen wie gemalt wirkt. Sondern sie setzt auf gezielte, poetisch überhöhte Höhe- und Wendepunkte, über die sich die dialogarme Geschichte in Bildern erzählt. Nichts wird dabei ganz ausbuchstabiert, vieles deutet sich lediglich in Details an oder wird ganz zwischen die Schnitte verlegt, besonders wenn es um überwältigende Emotionen geht, etwa nach dem Tod eines Babys.

Der objektivierende Kamerablick lädt zur Reflexion über die Familien- und Geschlechterverhältnisse ein, aber er verhindert keineswegs die Identifikation. Besonders die Frauen und Mütter hat Regisseurin und Drehbuchautorin Maura Delpero mit viel Wärme und Einfühlungsvermögen gezeichnet, wie schon in ihrem ebenfalls bezaubernden Debüt Maternal. Den Figuren von damals fügt sie nun die epische Wucht der Geschichte und gesellschaftlichen Umbrüche hinzu, ohne das Persönlich-Individuelle aus den Augen zu verlieren. So stellt sie etwa in der Figur des Dorflehrers Cesare keinen eindimensionalen Patriarchen ins Zentrum des Dorf- und Familienlebens, sondern einen vielschichtigen Charakter mit durchaus auch sanften, kunstsinnigen und politisch fortschrittlichen Zügen. Auf der Leinwand entsteht so das Panorama einer Vergangenheit, das uns Heutigen erklärt, was von ihr noch in uns steckt. Ganz ähnlich wie etwa in Edgar Reitz‘ „Heimat“-Trilogie (1981 – 2012) oder in Ermanno Olmis bäuerlicher Milieustudie Der Holzschuhbaum (1978). Man muss nicht aus dem Hunsrück oder aus Südtirol stammen, um daraus etwas für sein eigenes Leben mitzunehmen.

Credits

OT: „Vermiglio“
Land: Italien, Frankreich, Belgien
Jahr: 2024
Regie: Maura Delpero
Drehbuch: Maura Delpero
Musik: Matteo Franceschini
Kamera: Mikhail Krichman
Besetzung: Tommaso Ragno, Giuseppe De Domenico, Roberta Rovelli, Martina Scrinzi, Orietta Notari

Bilder

Trailer

Filmpreise

Preis Jahr Kategorie Ergebnis
Europäischer Filmpreis 2024 Bester Film nominiert
Beste Regie Maura Delpero nominiert
Golden Globes 2025 Bester fremdsprachiger Film nominiert

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Vermiglio
fazit
„Vermiglio“ erzählt vielschichtig von der Geborgenheit und der Enge einer bäuerlichen Gemeinschaft an der Schwelle zur Moderne. Regisseurin Maura Delpero taucht in die Vergangenheit ihrer Familie ein und zeichnet mit zauberhafter Warmherzigkeit komplexe Charaktere, die mit einer erschütternden Tragödie fertigwerden müssen.
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8.7
8
von 10