
Der 70-jährige Hiroshi Uchida (Kanji Furutachi) liegt aufgrund eines fortgeschrittenen Krebsleidens im Sterben, bekommt in einem Krankenhaus in Kanagawa palliative Behandlung. Was die Ärzt*innen und Pfleger*innen von ihm persönlich aber erst drei Tage vor seinem Tod erfahren: Sein eigentlicher Name lautet Satoshi Kirishima und er ist seit 49 Jahren einer der meistgesuchten Terroristen Japans, der nach all den Dekaden auf der Flucht nun zumindest seine letzten Atemzüge wieder unter seinem echten Namen verbringen möchte. Das künstlerisch-biographische Drama Escape, das von Experimentalfilm-Altmeister Masao Adachi verfilmt und auf europäischer Ebene zum ersten Mal bei der Nippon Connection 2025 gezeigt wurde, beschäftigt sich aber weniger mit den „aufregenden“ Teilen Kirishimas Lebens, sondern vor allem mit der Selbstreflexion des Scheidenden, der in seinen Gedanken immer wieder auf sein jüngeres Ich (gespielt von Rairu Sugita) trifft.
Ein Throwback zur Japanese New Wave
Die 1960er und 1970er waren in Japan eine politisch und gesellschaftlich sehr tumultuöse Zeit – Studierendenaufstände, politische Unruhen und Anschläge waren auf einem Höhepunkt. Die Aggression des hauptsächlich jüngeren Teils der Bevölkerung richtete sich gegen die Polit-Elite, gegen die USA, die mit ihren Truppen seit dem Zweiten Weltkrieg unentwegt auf den Inseln stationiert war, gegen die wichtigsten Unternehmen des Landes. An Anschlägen gegenüber den Letztgenannten war Satoshi Kirishima mitbeteiligt: Als Mitglied der „East Asia Anti-Japan Armed Front“, einer Truppe im linksextremen Spektrum, die Japan vordergründig für die bis zur Kapitulation 1945 begangenen Verbrechen büßen lassen wollte, avancierte Kirishima zu einem der bekanntesten Terroristen des Landes, nicht zuletzt aufgrund seines Fahndungsbildes, das mit seinem breiten Grinsen und seinen langen Haaren überall zu sehen war.
Damit stand Kirishima dem Regisseur und Drehbuchautor von Escape, Masao Adachi, gar nicht mal so fern. Dieser war ungefähr zur selben Zeit Mitglied der „Japanese Red Army“, zog Anfang der 1970er in den Libanon, um dort die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ zu unterstützen, wurde 28 Jahre später verhaftet und nach Japan zurückgeschickt, und fing erst 2003 wieder an, Filme zu machen, nachdem er über 30 Jahre zuvor als einer der einflussreichsten Vertreter der Japanese New Wave galt, dessen Filme von linkspolitischer Dokumentation bis zu experimenteller Erotik rangierten. Und dieser Background ist in Escape deutlich zu spüren: Hier werden keine spektakulären, actionreichen Anschläge oder das mühsame Leben im Untergrund dargestellt, sondern das Innenleben Kirishimas, der seine Vita reminisziert und rekapituliert. Es gibt keinen bildgewaltigen Bombast, sondern bodenständige, philosophische, theaterhafte, authentisch wirkende Szenen sowohl aus seiner Jugend als auch im Hier und Jetzt, alles im 4:3 Format, spärlich koloriert.
Voller Energie trotz hohen Alters
Das heißt nicht, dass Escape langwierig vor sich hinplätschern würde: Der Schnitt ist rapide und wechselt zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und essayistischen Szenen hin und her, die Momente aus Kirishimas politisch aktiver Zeit sprudeln vor jugendlicher Energie, die stark an anarchische Avantgardefilme der Japanese New Wave wie Throw Away Your Books, Rally in the Streets erinnern; die gesamte Form, das gesamte Pacing ist direkt dieser innovativen Machart japanischer Filme entnommen und wurde von Adachi kompromisslos ins Jahr 2025 verfrachtet, weswegen dieses Werk heutzutage als Unikat betrachtet werden kann – nur noch selten sind Kinoneuheiten zu sehen, die so stark gegenwärtigen Trends widersprechen.
Gemessen an Adachis hohem Alter, der durch Kirishimas Biographie auch seinen eigenen Werdegang hindurchfließen lässt, wirkt Escape fast schon spritzig; wären da nicht die kontemplativen Sequenzen des Alterns, des Leidens, des Bereuens, der Sänfte, dem Schließen des Friedens mit sich selbst. Dies ist im Fall dieser beiden Persönlichkeiten gar poetisch, halten sie doch beide immer an ihren Idealen fest, auch wenn sie manchen Weg dorthin hinterfragen. Nach einem bewegten Leben diverse Stränge miteinander zu verknüpfen und daraus ein Kunstwerk zu bilden, seine eigene Kunst mit seiner Lebenserfahrung zu schleifen, seiner eigenen Sterblichkeit bewusst zu sein, während man noch auf aktuelle Gegebenheiten reagiert, ist eine bewundernswerte Fähigkeit, die wie beispielsweise im Falle von David Bowies Lazarus zu einem Meisterwerk führen kann. Ganz ein solches ist Escape aufgrund mancher stilistischer und kompositorischer Mängel nicht, dafür aber ein gleichzeitig raues sowie feinfühliges Biopic von einem Mann am Rande der Gesellschaft über einen Mann am Rande der Gesellschaft.
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