
Gesundheitskrisen wie die COVID-19-Pandemie sind keine Seltenheit. Ganz im Gegenteil: Je weiter der Mensch sich auf der Erde ausbreitet und in geschützte Bereiche der Natur vordringt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich solche gefährlichen, den Globus umspannenden Ereignisse häufen werden. Drei Wissenschaftler, die dies bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten erkannt haben, sind die chinesische Virologin Shi Zhengli, der in Singapur tätige chinesische Molekularbiologe Linfa Wang und der britisch-amerikanische Zoologe und Experte für Infektionsepidemiologie Peter Daszak.
Nach der SARS-Epidemie Anfang des Jahrtausends (die Abkürzung SARS steht für Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom) machten sie sich auf die Suche nach dem Ursprung des Erregers und wurden in Fledermäusen fündig. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie in der Fachzeitschrift Science. Zwar schlugen die drei Wissenschaftler danach verschiedene Wege ein, blieben aber in Kontakt und versuchten in ihren jeweiligen Arbeitsfeldern, die Welt auf die nächste Pandemie vorzubereiten. Als SARS-CoV-2, landläufig auch als Coronavirus bezeichnet, die Welt ab 2020 lahmlegte, sahen sich die drei Wissenschaftler nicht nur mit einem neuen Virus, sondern auch mit einer neuen Medienrealität konfrontiert. Je länger die Krise andauerte, desto mehr Misstrauen und Hass schlug ihnen entgegen.
Die Geister, die wir riefen
Aktueller könnte die neue Dokumentation des renommierten Schweizer Filmemachers Christian Frei (Genesis 2.0, Space Tourists, War Photographer) kaum sein. Nur wenige Tage, bevor Blame im Mai 2025 beim DOK.fest München seine Deutschlandpremiere feierte, ließ das Weiße Haus in Washington vermelden, dass es die Finanzierung von Forschung im Bereich der Gain of Function, kurz GoF, in bestimmten Ländern einstellen werde. Diese Art der medizinischen Forschung befasst sich damit, neue Infektionskrankheiten vorherzusagen und Impfstoffe zu entwickeln, geriet im Zuge der COVID-19-Pandemie aber auch in die Kritik. Dass die GoF, die angeblich in einem Labor im chinesischen Wuhan betrieben wurde, die Pandemie erst ausgelöst habe, lautet ein bekannter, aber nicht bewiesener Vorwurf, der sich in der öffentlichen Wahrnehmung als sogenannte „Laborunfallhypothese“ bis heute hartnäckig hält.
Treibende Kraft hinter dem Stopp der US-Finanzierung ist kein Geringerer als der neue US-Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr., der in Christian Freis Film eine winzige, aber ausgesprochen unrühmliche Gastrolle einnimmt. Kennedys Buch The Wuhan Cover-Up: And the Terrifying Bioweapons Arms Race (in der deutschen Übersetzung wenig überraschend beim für Verschwörungsgeschwurbel bekannten Kopp Verlag erschienen) ist einer der vielen kleinen Bausteine, die dazu beigetragen haben, die Reputation dreier Wissenschaftler zu beschädigen – zumindest, wenn es nach Christian Frei geht. Denn der Schweizer macht in seinem neuesten Dokumentarfilm keinen Hehl daraus, wo seine Sympathien liegen.
Subjektive Sicht mit selbstreflexiven Momenten
Gleich zu Beginn macht eine Texteinblendung klar, dass Blame aus der Perspektive der drei Wissenschaftler erzählt ist. Auch tritt der Regisseur nicht hinter die Kamera zurück, sondern bringt sich wiederholt als aktiver Part ins Geschehen ein; Frei stellt Fragen, fasst Ereignisse, die nicht im Bild zu sehen sind, aus dem Off zusammen und hat den Kommentar seines Films, der dessen Entstehungsprozess selbstreflexiv miteinbezieht, eigenhändig eingesprochen. Kritische Nachfragen an die drei porträtierten Wissenschaftler, deren jeweiliger Werdegang in aller Kürze nachgezeichnet wird, sucht man bei ihm allerdings vergebens. Diese Aufgabe überlässt der Regisseur zwei anderen Journalisten, die einen der drei Protagonisten, den Zoologen Peter Daszak, auf den sich der Film immer stärker fokussiert, je länger er dauert, während einer Reise begleiten.
Freis parteiergreifende Herangehensweise mag auf den ersten Blick nicht objektiv genug erscheinen, ist allerdings einem gravierenden Umstand geschuldet. Das Objektivitätsgebot unserer Medien führte in den vergangenen Jahrzehnten dazu, dass Fehlinformationen und Falschaussagen in der medialen Öffentlichkeit als vermeintlich objektive Gegenpositionen verkauft wurden. Wer wissen möchte, wie das vonstattengeht, dem sei Robert Kenners sehenswerte Dokumentation Merchants of Doubt empfohlen, deren Titel in Blame mehrfach fällt. Und wer wie Christian Frei die Strategien dieser „Händler des Zweifels“ einmal durchschaut hat, der kann auch nachvollziehen, warum Frei deren Gegenpositionen in seinem Film zwar erwähnt, deren Akteure aber nicht zu Wort kommen lässt.
Ein wuchtiges und wichtiges Werk
Blame ist ein üppiges, ausuferndes und bisweilen – etwa durch den einnehmenden, eine mysteriöse Grundstimmung erzeugenden Score von Marcel Vaid und vom 2018 gestorbenen Jóhann Jóhannsson (Mandy, Arrival) – dick auftragendes Werk, das weit davon entfernt ist, ein perfekter Dokumentarfilm zu sein. Nicht zuletzt deshalb, weil es Frei nur im Ansatz gelingt, die hochkomplexe Sachlage hinter der COVID-19-Pandemie allgemein verständlich herunterzubrechen. Und dennoch ist Freis Film ungemein wichtig, weil er sein Publikum für Verschwörungstheorien, Medienstrategien und politische Manöver sensibilisiert und im Idealfall gegen diese impft. Weil er auf die Gefahr möglicher weiterer Pandemien hinweist. Und weil er eine Lanze für faktenbasierte Wissenschaft bricht. Angesichts der aktuellen Weltlage ist das gar nicht hoch genug anzurechnen.
(Anzeige)