Der französische Schauspieler Lambert Wilson ist seit Jahrzehnten ein internationaler Star, aber er hat noch nie mit einer deutschen Regisseurin oder einem deutschen Regisseur zusammengearbeitet. Im Film Klandestin (Kinostart: 24. April 2025) von Angelina Maccarone spielt er nun den schwulen englischen Maler Richard, der in Tanger lebt. Mit seiner Hilfe schafft es der junge Marokkaner Malik (Habib Adda) zum Sehnsuchtsort Europa. In Frankfurt am Main soll ausgerechnet die konservative Politikerin Mathilda (Barbara Sukowa) ihn verstecken, die gerade eine Kampagne gegen illegale Einwanderer fährt. Mathildas Assistentin ist seit kurzem die hochqualifizierte Juristin Amina (Banafshe Hourmazdi), eine Migrantin der zweiten Generation, die ihre marokkanischen Wurzeln endlich hinter sich lassen will. Sie wird als „kulturelle Vermittlerin“ eingeschaltet und soll das Problem mit Malik lösen. Aus der komplexen Figurenkonstellation des Quartetts webt Regisseurin Angelina Maccarone ein dichtes Netz von Perspektiven, das sich wie ein Puzzle über die thrillerhafte Handlung legt und die Unmenschlichkeit repressiver Flüchtlingspolitik bloßlegt. Auf dem Filmfest München 2024, wo Klandestin Premiere feierte, sprachen wir mit Lambert Wilson über Homosexualität in Marokko, über tiefe Freundschaften im Alter und über den Regiestil von Angelina Maccarone.
Das ist Ihr erster Film mit einer deutschen Regisseurin. Waren Sie überrascht, als die Anfrage kam?
Ich bin immer überrascht, wenn mich Anfragen erreichen. Aber in diesem Fall hat es mich gewundert, dass Angelina Maccarone einen französischen Schauspieler wollte, der eine britische Figur spielt. Sie hätte viele englische Darsteller für die Rolle finden können. Natürlich recherchierte ich über Angelina. Ich wusste, dass sie eine Dokumentation über Charlotte Rampling gedreht hatte. Also fragte ich meine Freundin Charlotte. Die erzählte viele gute Dinge über Angelina und so sagte ich zu. Ich mochte das Drehbuch. Es war sehr raffiniert und vollendet. Was man im Film sieht, die vier Geschichten plus Epilog, ist exakt das, was im Drehbuch stand. Sie musste keine einzelne Zeile ändern. Es war wie ein Puzzle, das sie von Anfang an im Kopf hatte. Ich habe noch nie in einem Film mitgespielt, in dem man dieselbe Geschichte aus vier verschiedenen Perspektiven sieht. Das mochte ich sehr.
Haben Sie noch andere Filme von Angelina Maccarone gesehen oder nur die Dokumentation über Charlotte Rampling?
Nein, normalerweise sehe ich die früheren Filme der Regisseure, mit denen ich arbeite, erst dann, wenn der aktuelle Film abgeschlossen ist. Wenn man die Filme vorher prüft, sagt man vielleicht nein zum aktuellen Angebot. Es ist gefährlich, alles vorher zu kontrollieren. Ich mag die Chance einer neuen Begegnung und denke, es ist auch eine neue Möglichkeit in ihrer oder seiner Karriere. Danach sehe ich mir ihre früheren Filme an und manchmal denke ich: oh Gott (lacht).
Ihre Figur ist ein schwuler Maler, der sich London nicht mehr leisten kann und deshalb in Marokko lebt. Wie würden Sie ihn beschreiben?
Ich würde ihn als Dilettanten charakterisieren. Das heißt nicht, dass er schlecht ist. Aber er hält Kunst nicht für die wichtigste Sache im Leben. Ich kann daran andocken, denn ich empfinde dasselbe in Bezug auf die Schauspielerei. Als ich Schauspielstudent in London war, sagte mir ein Kommilitone, der gern aus der Hand las und die Zukunft prophezeite: Du kannst eine große Karriere haben, aber du wirst immer deinem Privatleben den Vorrang geben. Damals verstand ich das nicht, weil ich zu dieser Zeit sehr ehrgeizig war. 45 Jahre später denke ich, dass er Recht hatte. Ich gab anderen Dingen den Vorrang über Erfolg und Kunst. Etwa der Liebe oder dem Gärtnern oder meinen Hunden – allem, was Leben bedeutet. Die Figur Richard wählt ihr emotionales Wohlergehen: in dieser exotischen marokkanischen Stadt zu leben, umgeben von jungen Männern. Dort kann man mit wenig Geld über die Runden kommen. Er betrachtet sich als Künstler, aber er strengt sich nicht übermäßig an.
Damit ist er das glatte Gegenteil seiner langjährigen guten Freundin Mathilda.
Sie sagt ihm, er gammle noch immer herum. Und sie will, dass er seine Arbeit so wichtig nimmt, wie sie es tut. Sie verfolgt ihre Karriere mit kompletter Ernsthaftigkeit, hat aber keinerlei Privatleben. Ihr Ehemann verließ sie deswegen. Nun bezahlt sie Männer dafür, dass sie mit ihr ins Bett gehen.
Richard ist, wie die anderen Charaktere auch, eine komplexe Figur. Mussten Sie, um ihn zu verstehen, einfach nur das Drehbuch lesen? Oder gab es zusätzliche Vorbereitungen auf die Rolle, zum Beispiel Recherchen in der Kunstszene?
Ich kenne diese Leute: Maler, Künstler, Dekorateure. Ich habe oft in Marokko gedreht. Dort sah ich die künstlerischen Dilettanten herumhängen und die schwulen Männer, die noch immer den Hippie-Traum der 1960er träumten. Für Leute wie Francis Bacon und seine Freunde war der Traum Wirklichkeit in den 1960ern und frühen 1970ern, als die jungen Marokkaner noch leicht verfügbar waren. Klar, man gab ihnen Geld. Aber sie waren so verzweifelt, dass es einfach war, sie anzusprechen. Wenn man allerdings heute mit jemandem spricht, der in Marokko lebt, wird er einen warnen. Denn Homosexualität ist ein großes Tabu. Die jungen Männer tun es nur wegen des Geldes. Im schlimmsten Fall bestehlen sie die Freier.
Allerdings ist Richard Engländer und nicht, wie Sie, Franzose.
Sein Britisch-Sein ist mir ebenfalls sehr nah. Ich bin zwar Franzose, aber ich habe eine Menge Künstler kennengelernt, die bei der Familie ein- und ausgingen, bei der ich als Schauspielschüler in London wohnte. Manche waren schwul, andere nicht. Die Kombination, wer sie waren und wie sie sprachen, ist mir sehr vertraut. Genau wie ihr Humor. Das ist ein sehr spezieller englischer Humor, der von Leuten im Theater und in der Kunstszene geteilt wird. Die Engländer nennen ihn Camp, was man schwer übersetzen kann, aber in Richtung übertrieben kitschig oder tuntig geht. Diesen Humor teilen auch Richard und Mathilda.
Sie haben die Beziehung zum Marokkaner Malik angedeutet, der sich Richard sexuell anbietet. Denken Sie, Richard beutet diesen Jungen aus?
Nein, er beutet ihn nicht aus. Sondern er hat sich in ihn verliebt, in seine Schönheit. Das ist das Schlimmste, was passieren kann. Es ist die eine Sache, mit jemandem ins Bett zu gehen, auch wenn man dafür bezahlt. Aber plötzlich ist Richard mit einer Schönheit konfrontiert, von der er in seinen Fantasien nicht loskommt. Jugend und Schönheit sind unwiderstehlich. Was Malik betrifft, ist Richard ein Romantiker. Er will nicht als Gegenleistung dafür mit ihm ins Bett gehen, dass er Malik nach Europa bringt. Das findet er abstoßend. Er liebt ihn wirklich und will ihn nicht benutzen. Außerdem ist Richard sehr naiv. Er macht sich keinerlei Gedanken über den Altersunterschied. Er verhält sich wie ein Pubertierender. Vielleicht hat er die Liebe zwischen Jugendlichen nie gelebt. Sein ehemaliger Ehemann John war älter als er. Möglicherweise ist es das erste Mal, dass ihn eine Liebe so trifft. Er benutzt Malik nicht. Eher ist es umgekehrt. Malik benutzt ihn.
Malik sieht wohl keine andere Möglichkeit, nach Europa zu kommen?
Ich war letztes Jahr Jury-Vorsitzender beim Filmfestival von Locarno. Wir vergaben eine lobende Erwähnung an den Dokumentarfilm Nuit obscure – Au revoir ici, n’importe où von Sylvain George. Der Regisseur porträtiert die arabischen Flüchtlinge, die es in die spanische Exklave Ceuta geschafft haben, gegenüber von Gibraltar. Es ist ein herzzerreißender Film über diese jungen Leute. Sie warten dort und warten, sechs Monate oder länger. Sie können weder vor noch zurück. Manche sterben. Und man spürt, wie verzweifelt sie sind und warum sie alles tun würden, um endlich nach Europa zu kommen. Ich habe diesen Film erst gesehen, als wir Klandestin schon gedreht hatten. Aber er ist im Nachhinein ein zusätzlicher Beweis dafür, dass man Malik nicht moralisch verurteilen darf für das, was er tut. Klandestin ist sowieso in vielerlei Hinsicht ein sehr aktueller Film. Waren Sie gestern in der Premiere?
Nein, ich hatte den Film schon in der Pressevorführung gesehen.
Gestern habe ich dem Publikum in der anschließenden Frage- und Antwort-Runde gesagt, dass es für mich sehr bewegend ist, den Film nach der Parlamentswahl in Frankreich zu sehen (Anm. der Redaktion: Im ersten Wahlgang waren die Rechtspopulisten von Marine Le Pen stärkste Kraft). Zum Beispiel ist die Figur von Amina genau das, was die Leute um Le Pen nicht wollen. Sie wollen keine Leute mit doppelter Staatsbürgerschaft in wichtigen Positionen der Regierung oder anderen verantwortungsvollen Jobs. Das wollen sie ändern. Amina könnte dann keine Stelle mehr als Parlamentsmitarbeiterin haben. Alle Positionen, die Aminas Chefin Mathilda vertritt, werden noch viel stärker von Le Pen vertreten. Es war, als hätte ich den Film mit einer neuen Brille gesehen, und zwar einer sehr dunklen. Plötzlich ist das für uns in Frankreich Wirklichkeit. Es ist schrecklich für uns, aber gut für den Film. Das französische Publikum wird den Film mit noch größerem Interesse sehen.
Richard und Mathilda kennen sich seit langem. Und auch wenn sie sich in verschiedene Richtungen entwickelt haben, wollen beide ihre Freundschaft nicht zerstören. Mathilda, eine konservative Politikerin, nimmt ein großes Risiko auf sich, um Richard und Malik zu helfen. Wie empfinden Sie die Freundschaft der beiden?
Ich liebe diese Beziehung. Denn so etwas teile ich ebenfalls mit Leuten meines Alters. Es ist das Gefühl, dass wir nicht mehr so viele Jahre vor uns haben. Deswegen klammern wir uns an das, was unsere Jugend und unser Leben war. Ich habe eine solche Freundschaft mit einer Frau, die wie eine Schwester für mich ist. Je öfter wir uns sehen, umso intensiver wird es. Ja, Richard und Mathilda stehen politisch auf unterschiedlichen Seiten. Richard denkt eher links, kümmert sich um die humanitären Aspekte der Migration. Aber er ist auch zu faul, um sich intensiv in der Politik zu engagieren. Die konservative Mathilda hat mit konkreten, pragmatischen Fragen zu tun. Sie will die Migration eindämmen. Trotzdem sind sie Seelenverwandte. Egal, was Richard tut und in welch schwierige Situationen er sie bringt – sie vergibt ihm immer.
Wie war die Zusammenarbeit mit Barbara Sukowa, die Mathilda spielt?
Es war sehr einfach, mit ihr zu spielen. Sie war sofort wie meine Schwester. Es gab keinerlei Spannung wegen ihres Star-Status‘. Sie ist überhaupt nicht eingebildet. Ich sah sie und wusste, das wird gut. Normalerweise muss man sich erst kennenlernen, man geht zusammen essen und redet über die Beziehung der Figuren. Das brauchten wir gar nicht. Wir verstanden uns auf Anhieb.
Sie haben in einigen großen Blockbustern gespielt. Warum liegen ihnen kleine Arthouse-Filme trotzdem am Herzen?
Weil sie intelligenter sind. Wenn man einen Independent-Film dreht, hat man üblicherweise ein ernstes Sujet mit Hintersinn und Tiefe. Die Blockbuster werden immer dümmer. Wer will das spielen, wenn er nicht von Geld oder internationalem Ruhm fasziniert ist? Was für eine Verschwendung: unglaublich talentierte amerikanische Schauspieler werden Superhelden. Ich möchte Filme auswählen, die mir die Möglichkeit geben, über ein Thema nachzudenken, mit dem ich mich näher beschäftigen will. Natürlich bekommt man weniger Geld und es ist weniger bequem. Aber ich mag die Leichtigkeit und die Freiheit, die man bei Filmen mit kleinerem Budget hat. Amerikanische Blockbuster sind so straff geführt wie eine Armee. Sie sind extrem unpersönlich. Es ist vollkommen ausgeschlossen, dass man mit einem der Stars mal einen trinken geht. Man setzt sie in Limousinen und fährt sie ins Hotel. Man kann nicht mal mit ihnen reden.
Wie wählen Sie ihre Rollen aus?
Nach 45 Jahren in diesem Geschäft mag ich die schauspielerische Herausforderung: etwas, das ich noch nicht gemacht habe. Ich versuche, meinen Lebensstil zu reduzieren, sodass ich nicht zu viel Geld verdienen muss. Ich bin im Rentenalter und darf wählerischer sein mit der Auswahl meiner Rollen.
Wie würden Sie den Regiestil von Angelina Maccarone beschreiben?
Sehr minutiös. Sie wusste genau, was sie wollte. Denn sie hat dieses Puzzle geschrieben und kannte es natürlich besser als irgendjemand anderer. Zum Beispiel filmt sie einen Teil einer Blume und man denkt, warum filmt sie nicht die ganze Blume. Weil sie genau weiß, was als nächstes ins Bild kommt. Sie dreht wie jemand, der bereits im Schneideraum sitzt. Am Set ist sie absolut diskret, wie eine kleine Maus, die man kaum hört. Das ist eine interessante Kombination, einerseits sehr diskret und zugleich stark und mutig. Der Dreh war für sie nicht einfach. Denn sie musste mit einem jungen Debüt-Schauspieler aus einer muslimischen Familie arbeiten, der mit Themen wie Homosexualität, Sex und Nacktheit klarkommen musste, was in seiner Kultur Tabus sind. Er wusste, dass seine Eltern und seine Freunde den Film sehen würden. Immer wieder argumentierte er, dass er dieses und jenes niemals tun würde. Wir mussten ihm klarmachen, dass nicht er es tut, sondern die Figur, die er spielt. Es waren endlose Diskussionen. Angelina begleitete sozusagen die Geburt eines jungen Schauspielers. Sie war unglaublich geduldig.
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