Annie Ernaux – Die Super-8-Jahre
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Annie Ernaux – Die Super-8-Jahre

Annie Ernaux – Die Super-8-Jahre
„Annie Ernaux – Die Super-8-Jahre“ // Deutschland-Start: 29. Dezember 2022 (Kino)

Inhalt / Kritik

Bei keiner anderen Schriftstellerin verwebt sich das Private mit dem Politischen so engmaschig wie bei Annie Ernaux (Das Ereignis), der Literaturnobelpreisträgerin von 2022. In die persönliche Geschichte schreibt sie das Soziale ein, quasi die Biografie des 20. Jahrhunderts. Daher wundert es kaum, dass sie auch bei ihrem ersten Dokumentarfilm so verfährt, den sie gemeinsam mit ihrem Sohn David Ernaux-Briot realisiert hat. Schon der Titel weist auf die Verwandtschaft der Kunstgattungen hin. Die Super-8-Jahre sind eine Anspielung auf Die Jahre, ihr Hauptwerk aus dem Jahr 2008, in dem sie ihr Leben und die Geschichte der letzten 68 Jahre Revue passieren lässt. Und zwar anhand von Fotografien, Erinnerungen und Tagebüchern, von Melodien und Gegenständen, die sie der Erinnerung entreißt und vor dem inneren Auge wieder auferstehen lässt. Wie sehr müssen sie also die Home-Videos der Jahre 1972 bis 1981 gereizt haben, die in ihrem Archiv schlummerten und die ihr Sohn zu einem durchlaufenden Familienalbum montiert – in einem literarischen Experiment am Rande des Filmischen?

Die Diskretion der Bourgeoisie

Gequält lächelt die junge Frau Anfang 30 in die Kamera, die ihr Ehemann Philippe Ernaux hin zu ihrem Schreibtisch schwenkt, vor sich neben Büchern ein vollgeschriebenes Blatt Papier. Schon nach Sekunden gefriert das Lächeln, der Blick ist scheu und abweisend, als fühle sie sich ertappt. Hau‘ ab, lass‘ mich arbeiten, könnte sie gleich sagen. Ob sie es getan hat, wissen wir nicht, es folgt ein Schnitt und wir sehen sie auf dem Sofa sitzen, ein Buch lesend, nun wieder ganz entspannt. Denn jetzt tut sie etwas, was man ihr zubilligt als Lehrerin, zumal in einem bourgeoise-intellektuellen Haushalt mit zwei Kindern, deren Eltern sich der nicht-kommunistischen Linken zugehörig fühlen.

Wobei Annie Ernaux sich erwischt fühlt am Schreibtisch, ist die Arbeit an ihrem ersten Roman, der in diesen Jahren entsteht, in denen ihr Mann die Super-8-Kamera kauft – damals der letzte Schrei – und sich als talentierter Hobbyfilmer und Familienchronist betätigt. Annie Ernaux wollte damals keine alleinige Hausfrau und Lehrerin sein. Sie wollte schreiben, aber das passte nicht in das noch traditionelle Verständnis von der Arbeitsteilung der Geschlechter, die dem Mann Freiheiten gewährte und die Frau in ein Korsett von vielfältigen, fremdbestimmten Belastungen zwängte. Die Arbeit am Roman musste heimlich geschehen, nicht zuletzt weil der Mann und Annies Mutter, die mit im Haushalt lebte, darin vorkamen.

Manches von ihren Gefühlen können wir ihrem Gesicht ablesen, aber den überwiegenden Teil erfahren wir aus dem Off-Text, den Annie Ernaux für den Film geschrieben hat und den sie selbst einspricht. Es ist ein essayistisches bis literarisches Schreiben, aus der Distanz und als eine Ethnologin ihrer selbst, wie die Autorin einmal ihren Stil und den Zweck ihrer Arbeit beschrieben hat. Der Text blickt hinter die Kulissen des „theatralischen Happenings“ (Ernaux), das die Familie immer gut gelaunt inszenieren möchte, bei Geburtstagen, Weihnachten und den zahlreichen Reisen. Dahinter sieht es oft weniger glücklich aus.

Annie Ernaux hat in ihren Tagebüchern nachgelesen und zitiert eine Frau, die sich fremd fühlte in diesem Leben. Die beschreibt, wie ihre Ehe nach und nach zerfällt, wie sie träumt von einer großen Veränderung, ohne zu wissen, wie und wohin. Das kann man in den Bildern nicht sehen, sondern höchstens hineininterpretieren. So entsteht eine reizvolle Spannung zwischen Visualität und Text, zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Anders würde der 62 Minuten lange Film auch nicht funktionieren. Ohne Text fiele er auf den Status eines reinen Home-Videos zurück, spannend für die Beteiligten, aber langweilig für Außenstehende.

Vom Werden einer Schriftstellerin

Der dicht formulierte, nüchterne und manchmal soziologisch anmutende Kommentar schreibt den Film in mindestens zwei Dimensionen über das rein Persönliche hinaus. Zum einen zeigt er das Werden einer Schriftstellerin. Die drei ersten Romane entstehen in dieser Zeit, weshalb Annie Ernaux sie trotz des Leidens an ihrer Ehe als entscheidende Jahre würdigt. Nur zwei Jahre nach der Scheidung erscheint ihr Roman Der Platz, mit dem ihr der große Durchbruch gelingt. Zum anderen überschreibt der Filmtext das Persönliche mit dem Kollektiven. Die Zeitgeschichte fließt hinein, die Politik der wechselnden französischen Präsidenten, die Begeisterung für den sozialistischen chilenischen Präsidenten Salvador Allende, aber auch die Mode von damals, die Hits im Radio, die Arbeitsteilung der Geschlechter und das sich Einrichten der politischen Linken in der Dekade nach den Mai-Aufständen von 1968. Man kann die Textur der Zeit fühlen, oder wie Annie Ernaux es ausdrückt: „den Geschmack und die Farben dieser Jahre“.

Trotzdem lebt dieser Film von seinem Text, nicht von seinen körnigen, manchmal ausgebleichten Bildern, mag der Hobbyfilmer Philippe Ernaux auch noch so elegant schwenken und zoomen. Gerne möchte man die oft präzisen Gedanken auf sich wirken lassen, möchte zurückblättern und innehalten. Aber das geht eben im Kino nicht, und deshalb verweht vieles, was man gerne festgehalten hätte. Zumal der Film in Deutschland ganz bewusst mit deutschen Untertiteln gezeigt wird, um die Stimme der Schriftstellerin authentisch auf das Publikum wirken zu lassen. Wer aber nicht gut genug Französisch kann, um den komplexen Analysen zu folgen, ist auf das ständige, allmählich ermüdende Mitlesen angewiesen. Trotzdem werden Fans der Nobelpreisträgerin die Frau der Bücher noch besser kennen lernen. Und wer noch nichts von ihr gelesen hat, bekommt zumindest eine Menge Anregungen, das nachzuholen.

Credits

OT: „Les années Super-8“
Land: Frankreich
Jahr: 2022
Regie: David Ernaux-Briot
Drehbuch: Annie Ernaux
Musik: Florencia Di Concilio
Kamera: Philippe Ernaux
Sprecherin: Annie Ernaux

Bilder

Trailer

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Annie Ernaux – Die Super-8-Jahre
fazit
„Annie Ernaux – Die Super-8-Jahre“ ist in seinem Off-Kommentar ein fesselndes Stück Literatur. In der Kombination von Text und Bild wagt sich der Film allerdings in experimentelle Gefilde vor, jenseits von Sehgewohnheiten, auch von dokumentarischen Gepflogenheiten. Ob das gelingt, hängt von der Vertrautheit mit Ernaux‘ Büchern ab – und von den Französischkenntnissen.
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