Mein Vietnam
© Filmakademie Baden-Württemberg

Mein Vietnam

Kritik

Mein Vietnam
„Mein Vietnam“ // Deutschland-Start: nicht angekündigt

Es ist interessant, aber irgendwie schade, dass es in der deutschen Sprache von vielen Worten einen Plural gibt, doch leider nicht von dem Nomen „Heimat“. Zumindest grammatisch ist es nicht zulässig von „Heimaten“ zu sprechen und wird direkt von jedem Textverarbeitungsprogramm angestrichen, auch wenn uns die Wirklichkeit sagt, dass es sehr wohl mehr als nur die eine Heimat gibt, und diese keinesfalls nur geografisch definiert werden muss. Gerade diese Größe trifft oft meist nicht zu, verweist sie zwar auf einen Wohn- oder Aufenthaltsort, doch ein wirkliches „Zuhause“ wurde aus diesem nie, aus welchen Gründen auch immer. Selbst nach vielen Jahren ist ein Ankommen in dieser Heimat für viele Menschen undenkbar, selbst wenn sie sich augenscheinlich integriert haben, eine Wohnung, eine Arbeit und eine Familie gegründet haben. Schon der Schweizer Autor Max Frisch schrieb in sein Tagebuch die Frage, wie viel Heimat man eigentlich brauche, ob Heimat eigentlich eine eintauschbare Größe sein kann und ob es eigentlich mehr als nur die eine geben kann.

Wenn es diese zwei oder mehr „Heimaten“ im Leben eines Menschen geben kann, wie erhält man die Verbindung zu diesen beiden aufrecht und wie fühlt es sich an, in der einen Heimat zu sein, während die andere ganz weit weg ist? In Deutschland gibt es, wie in vielen Ländern, in denen Einwanderung eine gesellschaftliche Realität ist, viele Menschen, die fast täglich ihr Leben zwischen zwei „Heimaten“ navigieren müssen. In ihrem gemeinsamen Projekt Mein Vietnam, welches auf dem diesjährigen Filmfestival Max Ophüls zu sehen ist, gehen die Regisseure Thi Hien Mai und Tim Ellrich diesen wie auch viele weiteren Fragen nach. Die Dokumentation erzählt die Geschichte von Bay und Tam, den Eltern Thi Hien Mais, welche schon seit 30 Jahren in Deutschland leben, nachdem sie aus ihrer Heimat Vietnam fliehen mussten. Jedoch sind sie nie wirklich in Deutschland angekommen, können die deutsche Sprache nur bruchstückhaft und führen, wie es im Statement der Regisseure heißt, ein Leben, in welchem sie vom Rest der Gesellschaft nicht wirklich wahrgenommen werden.

„Man wird krank, wenn man vergisst.“

Über 70 Minuten lang begleitet die Kamera das Leben des Ehepaares über ein paar Wochen, welche bestimmt sind durch die Sorgen Tams um das Haus der Familie in Vietnam, welches nach einem verheerenden Taifun wieder instand gesetzt werden muss, sowie die Bemühungen Bays, die deutsche Sprache zu lernen und ihrer Familie daheim bei den letzten Stunden ihrer schwerkranken Schwester beizustehen. Eingerahmt wird die Dokumentation von einem „Home Video“, welches die Familie bei einem recht festlichen Essen zeigt, begleitet von den Worten Tams, der beschreibt, dass sie alles hätten, also genug zu essen und zu trinken, und sich eben nicht beschweren könnten. Thie Hien Mais und Tim Ellrichs Dokumentation zeigt den Kontrast zu dem Ehepaar von heute, das sich, was den Zustand des Ankommens in der neuen Heimat Deutschland sehr unterscheidet. Die Bilder der Kamera zeigen ein Ehepaar, das sich sehr liebt, aber in der Frage, was die Heimat nun ist und ob man im hohen Alter zurückzieht nach Vietnam nicht einig ist, auch wenn beides Vor- und Nachteile mit sich bringt.

Jedoch verstärkt sich mehr und mehr der Eindruck von einem Parallelleben, welches in einer potenziell neuen Heimat stattfindet, aber auch wieder nicht. Genauso sieht es bei der Verbundenheit mit der alten Heimat aus, welche über Facebook und Skype aufrechterhalten wird, aber deren Beständigkeit von der Stabilität der Internetverbindung abhängig ist. So bleibt eine doppelte Sehnsucht in Tam und Bay, eine nach der alten Heimat, nach ihren Familien und ihrem Alltag, doch auch nach einem Ankommen in dieser neuen Heimat, besonders bei Bay, die sich in einer sehr berührenden Szene beispielsweise bei ihrer Tochter dafür entschuldigt, dass man sie in der Schule alles habe allein machen lassen, weil weder Bay noch Tam genug Deutsch sprechen konnten, um ein Gespräch mit den Lehrern zu führen.

Credits

OT: „Mein Vietnam“
Land: Deutschland
Jahr: 2020
Regie: Thi Hien Mai, Tim Ellrich
Kamera: Tim Ellrich

Trailer

Kaufen/Streamen

Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.




(Anzeige)

„Mein Vietnam“ ist eine berührende Dokumentation über das Leben zwischen zwei „Heimaten“, das Ankommen in einer solchen Heimat und die Sehnsucht danach. Thi Hien Mai und Tim Ellrich gelingt ein sehr persönlicher Film, der eine Thematik behandelt, die universell ist und den Zuschauer mit einer existenziellen Frage konfrontiert, die man gerne vergisst, deren Antwort aber immens wichtig fürs eigene Leben ist.