Yu Hao
Regisseurin Yu Hao erzählt in ihrem Film "Plötzlich Heimweh" von ihren Erfahrungen als Chinesin in der Schweiz

Yu Hao [Interview]

In ihrem Dokumentarfilm Plötzlich Heimweh (Kinostart: 27. Februar 2020), der für den Publikumspreis der Solothurner Filmtage 2020 nominiert wurde, erzählt die chinesische Filmemacherin Yu Hao von ihrem Finden einer neuen Heimat in Der Schweiz, wobei sie den Zuschauer immer wieder auf interessante Weise mit Begriffen wie „Heimat“ und „Fremde“ konfrontiert, aber auch mit dem Hochgefühl, wenn man endlich an einem Ort „angekommen“ ist. In unserem Interview reden wir mit der Regisseurin über ihren Film, das Konzept des Heimatfilms und die bisherigen Reaktionen auf Plötzlich Heimweh.

In Ihrem Film sagt der Künstler Ueli Alder einmal: „Wenn man genug weit weggeht, ist man irgendwann wieder auf dem Heimweg.“ Geografisch mag dies stimmen, aber inwiefern trifft dies emotional zu?
2013 habe ich Ueli Alder im Rahmen unserer kommenden Ausstellung im Haus Appenzell getroffen. Als er mir von seinen Reisen, unter anderem in die USA, berichtete, merkte ich, wie diese Ausstellung für ihn auch eine Art Podest war, weil er sich über seine historische Fotokamera seiner Heimat näherte. Als er diese Aussage machte, realisierte ich, dass ich über diesen Aspekt nie wirklich nachgedacht hatte. Ehrlich gesagt, ich hatte keine Ahnung von „Heimat“, habe mir nie darüber Gedanken gemacht. Erst 2018, als Plötzlich Heimweh in der Postproduktion war, habe ich acht Bücher zum Thema gelesen.

Heimat, so wurde mir klar, besteht aus Erinnerungen und Momenten, zum Beispiel der Kindheit, die ich eng mit China verknüpfe und auch dort gelassen habe. Wenn man Heimat so definiert, dann ist logischerweise China meine Heimat und nicht die Schweiz. Andererseits fühle ich mich in der Schweiz viel wohler und habe kein Gefühl der Fremde – aber macht sie das automatisch zu meiner Heimat?

In Plötzlich Heimweh gibt es diese Anfangssequenz, welche meine Kindheit in China erzählt. Diese Sequenz habe ich erst einen Monat vor Fertigstellung des Films hinzugefügt. Für mich war klar, dass der Stil der Animation der Scherenschnitt sein muss. Der Scherenschnitt erlaubt keine Fehler, und wenn man doch einen falschen Schnitt macht, muss man damit umgehen, was für mich eine interessante Metapher auf das Leben an sich ist, wo wir ja auch mit unseren Entscheidungen leben müssen.

Der Schritt, meines Berufs wegen nach Peking zu ziehen, war für mich logisch und ich habe ihn nie hinterfragt, weil mir der Beruf stets wichtiger war als meine Familie. In die Schweiz zog ich dann, weil mir die Liebe wichtiger war als der Beruf. Ich sah ein, dass es in meinem Leben immer „Schein-Gründe“ und tatsächliche Gründe gab, wobei ich meine Entscheidungen immer auf Grundlage ersterer getroffen habe. Ich dachte, ich kann überall klarkommen und mich verwirklichen, aber wie ich erst spät erkannte, war der eigentliche Grund, der mich stets antrieb, dieses Gefühl der Fremde.

Inwiefern ist Plötzlich Heimweh denn ein Heimatfilm, wie man ihn zum Beispiel aus dem deutschen Film kennt?
Das kommt darauf an, was man darunter versteht. Wie verstehen Sie denn den „Heimatfilm“?

Da denke ich an vielleicht etwas stereotype Bilder eines kleinen Dorfes in den Bergen und an Bilder, welche die Heimat feiern. Meist sind diese Bilder jedoch Kulisse für etwas anderes und bei Ihnen sind diese keinesfalls Kulisse.
Egal, ob Plötzlich Heimweh ein Heimatfilm ist oder nicht, wichtig ist, dass ein Film eine Geschichte hat.

Viele meiner Aufnahmen im Film sind schon alt. Sie wurden also mit keinerlei Absicht gedreht, einen abendfüllenden Kinofilm daraus zu machen. Hätte ich im Vornherein geplant, als Protagonistin im Film aufzutreten, wie ich es in Plötzlich Heimweh tue, dann wäre der Film wohl ganz anders herausgekommen.

Man erlebt im Film, wie alle Menschen um mich herum Deutsch sprechen und ich nichts davon verstehe, weil ich zu dem Zeitpunkt die Sprache noch nicht beherrschte. Die Kamera half mir, meine Verlegenheit über diesen Umstand zu verstecken, und übernahm quasi die Kommunikation. Sie wurde zu einer Art Tagebuch.

Um auf Ihre Frage zurückzukommen, ich kann nicht sagen, ob der Film ein Heimatfilm ist, denn ich unterscheide lediglich zwischen einem Heimat- und einem Zugehörigkeitsgefühl. Ersteres erlangt man unter anderem durch Rituale und Traditionen, wohingegen das Gefühl der Zugehörigkeit über die Begegnung mit Menschen zustande kommt. Wenn ein Mensch sagt, er sei noch gar nicht richtig angekommen, dann macht mich das traurig, denn er sagt eigentlich aus, dass er nirgendwo richtig hingehört oder sich zumindest so fühlt.

Wie sind Sie eigentlich auf diesen eigentümlichen Titel für Ihren Film gekommen?
In den letzten Jahren wurde ich oft von den Einheimischen gefragt, ob ich Heimweh nach China hätte. Ich hatte keine Antwort, weil ich dieses Gefühl noch nie erlebt hatte. Als ich dann 2013 auf einer Reise durch Südostasien und auch in China war, habe ich nach etwa zweieinhalb Wochen plötzlich erstmals in meinem Leben Heimweh verspürt. In dem Moment wollte ich sofort zurück in die Schweiz. Dass ich dies nicht konnte, tat sehr weh. Seit diesem Erlebnis kann ich nicht mehr länger als drei Wochen unterwegs sein, weil ich sonst Heimweh bekomme.

In dem Moment ist es sicherlich negativ, aber ist Heimweh denn nicht auch ein Gefühl des Triumphs, weil man sich ja eingestehen muss, seine Heimat gefunden zu haben?
Heimat muss man nicht finden.

Ich habe mich immer stark gefühlt, wenn ich unabhängig war und ohne Bindungen durchs Leben gehen konnte. Freiheit habe ich definiert als nirgendwo gebunden zu sein.

Eines Tages, ich war gerade auf dem Rückflug einer Reise durch Norwegen, überkam mich ein unbeschreiblich schönes Gefühl, dass es da draußen diesen einen Ort gibt, der nur für mich ist, an dem ich meine innere Ruhe habe. Das ist Heimat für mich: dieser Raum, an dem ich meine innere Ruhe habe, an dem ich mich geborgen fühle und an dem ich alt werden möchte.

Gleichzeitig ist Heimat für mich nicht nur ein Ort, sondern definiert sich durch den Kontakt mit den Menschen, der Natur, den sozialen Strukturen sowie den politischen Denkweisen des Ortes.

In Plötzlich Heimweh sprechen Sie von der Perspektive des Beobachters, der nicht teilnimmt, sondern nur observiert. Gab es einen Zeitpunkt, zu dem sie diese Position aufgegeben haben? Fiel dieser Moment mit dem Erlernen der deutschen Sprache zusammen?
Nein, das hängt mit etwas anderem zusammen. In Urnäsch, im Appenzeller Hinterland wo ich wohne, gibt es den Brauch des Silvesterklausens, der auch im Film vorkommt. Wir feiern die Jahreswende zweimal: Nach dem gregorianischen Kalender am 31. Dezember und nach dem julianischen Kalender am 13. Januar.Die Silvesterkläuse gehen zu den Familien, die sie kennen, um gute Neujahrswünsche zu überbringen.

Als ich nach Urnäsch zog, gingen wir am alten und neuen Silvester stets ins Dorf, um den Silvesterkläusen zu begegnen. Während Ernst, mein Mann, oft Fotos machte, filmte ich wie eine Touristin.

Auf einmal fragte ich mich, warum ich Jahr für Jahr immer wieder dieses Ereignis filme, wo ich doch selbst in Urnäsch wohne. Für gewöhnlich bleiben die Ortsansässigen an diesem Tag zu Hause und warten auf den Besuch der Silvesterkläuse.

Als ich realisierte, dass die Kläuse auch mich besuchen würden, hat sich mein Gefühl für diesen Ort verändert, und ich wollte das Eintreffen der Kläuse bei unserem Haus nicht mehr verpassen. Mein Empfinden für diesen Brauch hat sich über die Jahre natürlich verändert. Für mich ist das Silvesterklausen inzwischen nicht mehr nur ein Brauch, der Freude bringt. Er symbolisiert einen Kreis, der gezogen wird und die Menschen miteinander verbindet. Ich hatte stets eine große Sehnsucht nach dieser Zugehörigkeit. Und inzwischen weiß ich, dass ich am 31. Dezember und am 13. Januar nach Urnäsch gehöre. Ja, das weiß ich.

Plötzlich Heimweh ist schon auf vielen Festivals gezeigt worden. Gab es hierbei Reaktionen, die Sie besonders überrascht oder erfreut haben?
Seitdem der Film in den Schweizer Kinos angelaufen ist, erreichen mich wöchentlich Dutzende von Mails und Briefen von Menschen, die den Film gesehen haben. Sie berichten von persönlichen Geschichten, Parallelen und emotionaler Berührung durch den Film, von Tränen und auch von großer Dankbarkeit. Diese Rückmeldungen und die Offenheit der Zuschauerinnen und Zuschauer stellen für mich eine große Bereicherung dar.

Kürzlich haben wir den Film an den Solothurner Filmtagen präsentiert, und auch diese Erfahrung war für mich sehr intensiv und bereichernd. Eigentlich dachte ich, das Thema des Films wäre etwas Regionales, doch das stimmt nicht. Die beiden Vorstellungen waren mit fast 1600 Plätzen komplett ausgebucht. Die Zuschauer haben gelacht, geschwiegen, Tränen vergossen und zum Schluss sehr lange applaudiert.

Während der Festivaltage habe ich viele schöne Feedbacks in den Kinos und auf der Strasse bekommen. Oft sprachen mich die Leute spontan an und lobten den Film. Einmal saßen wir gar im Restaurant und drei Frauen kamen an unseren Tisch. Eine Dame sagte, sie besuche die Solothurner Filmtage seit 55 Jahren, also seit Bestehen des Festivals, und Plötzlich Heimweh sei der beste, der schönste Film, den sie je am Festival gesehen habe. Das war sehr ergreifend – ich war schlicht sprachlos!

Ursprünglich meinte ich, dass vor allem Menschen mit Migrationshintergrund wie ich den Film verstehen würden. Doch es sind auch viele Schweizerinnen und Schweizer, die mir sagen, sie hätten im Film sich selbst erkannt. Ein Mann, gebürtig aus dem Kanton Appenzell Innerrhoden, in dem ich lebe, sagte mir, er könne vieles im Film nachempfinden, da auch er sich bisweilen nicht zugehörig fühle, so als wäre er ausgeschlossen von einem Kreis. Er meinte, er verstehe, wenn man diese Fremde, von der der Film spricht, in sich spüre und mit sich herumtrage.

Ich glaube, dieses Gefühl ist international und kann von jedem nachempfunden werden.
Wissen Sie, ich habe einmal einen Text gelesen, in dem es heißt, dass Offenheit ein Gefühl ist, das sich erst mit der Zeit erschließt. Jedoch kann ohne diese Offenheit auch keine Geborgenheit entstehen.

In der Schweiz werde ich oft gefragt, was denn nun der Hauptunterschied zwischen der Schweiz und China wäre, aber ich habe keine Antwort, weil ich nicht vergleiche. Man darf auch nicht vergleichen. In die Schweiz zu kommen, hier alles auf null gestellt zu haben, war für mich ein großes Geschenk. Das ist so, wie wenn ich einen chinesischen Tee trinke, aber gleichzeitig Appenzeller Bier oder Alpenbitter probieren will. Ich bekomme erst einen Eindruck und das volle Erlebnis, wenn ich zuerst den Tee austrinke, so dass das Glas neu befüllt werden kann.

Wenn man in ein neues Land kommt, muss man den Mut haben, alles auf null zu stellen. Man muss lernen, sich mit den lokalen Bräuchen und Sitten zu identifizieren, ansonsten wird die Integration sehr schwierig. Erst das Vertraute nehmen wir als schön wahr.

Vielen Dank für das Interview und noch viel Erfolg mit dem Film.

Bevor das Interview endete, sagte Yu Hao noch, dass bislang keine Heimkinoauswertung von Plötzlich Heimweh geplant sei und sie sich unwohl beim Gedanken fühle, dass man ihre Geschichte nach dem Anschauen in eine Schublade legt oder ins Regal stellt. Dies ist dann wohl ein Grund mehr, sich den Film im Kino anzusehen.

Zur Person
Yu Hao wurde 1977 in Yichun, Nordchina geboren. Nach einem Studium in Medienwissenschaft und Englisch arbeitete sie an verschiedenen Filmproduktionen mit und wurde 2001 Direktorin eines eigenen Samstagabendprogramms im chinesischen Staatsfernsehen. Wahrscheinlich würde sie heute noch dort arbeiten, wenn sie nicht eines TV-Beitrags wegen ins Appenzellerland in die Schweiz gereist wäre. 2005 wurde ihr Wunsch, zurück in dieses Land zu gehen, so groß, dass sie beschloss, dorthin zu ziehen, auch wenn sie kein Wort Deutsch sprach, geschweige denn den Dialekt der Appenzeller verstand. Dennoch hatte Yu Hao die Schweiz als ihre Heimat auserkoren. Über die Jahre lernte sie Deutsch und blieb ihrer Filmarbeit treu. Sie schrieb, produzierte und inszenierte verschiedene Dokumentarfilme, die sich insbesondere mit den Schweizern, der Landschaft und den Traditionen der Schweiz befassen. Neben diesen Arbeiten ist Yu Hao als Kuratorin für das Haus Appenzell in Zürich tätig.



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