Bruderliebe
© Film Kino Text

Bruderliebe

Bruderliebe
„Bruderliebe“ // Deutschland-Start: 28. November 2019 (Kino) // 29. Mai 2020 (DVD)

Blut ist dicker als Wasser, heißt es. Die Familie muss zusammenhalten. Das hört sich gut an! Aber ein Satz ist manchmal nur ein Satz, wenn er auf das Leben angewendet werden muss und dieser Zusammenhalt deutlich schwieriger ist, als es solche schönen Grußkartensprüche einen glauben lassen. Familie Becker hat dies am eigenen Leib erfahren, als Markus von einem Auto angefahren wurde, sich schwer verletzte und ins Koma fiel. Die Ärzte machten den Angehörigen keine große Hoffnung, nur wenige Tage würden ihm noch bleiben, lautete die Prognose. Bruder Michael wollte und konnte das so aber nicht akzeptieren, kümmerte sich noch im Krankenhaus um ihn, leistete ihm Gesellschaft und nahm ihn auch nach der unerwarteten Gesundung bei sich auf.

Bruderliebe begleitet die beiden Brüder über Jahre hinweg bei diesem Prozess, sowohl während der aufbauenden wie auch der ernüchternden Momente. Einfach nur überleben, das war Michael nicht genug. Er machte es sich zur Aufgabe, seinen Bruder wieder voll in den Alltag zu integrieren und mehr in ihm zu sehen als einen bewegungslosen Krankheitsfall, der vor sich hin vegetiert. Geschichten von wundersamen Heilungen gibt es natürlich immer mal wieder, gerade auch im religiös motivierten Filmbereich. Die Doku hat damit aber nur wenig gemeinsam, zeigt sie doch auf, was nach dem Erwachen von Markus alles passierte. Anfangs sind die Fortschritte immer groß, später stagniert es meist.

Zum Wohle der Familie
In ihrem Langzeitprojekt zeigt Regisseurin Julia Horn daher zwei Sachen auf. Zum einen ist Bruderliebe, wie der Titel bereits verrät, die Geschichte eines großen familiären Zusammenhangs. Michael kümmert sich nicht einfach nur ein bisschen um den Verletzten, er opfert dabei mehr oder weniger sein eigenes Leben. Er gibt seine Wohnung auf, Beruf, Freunde. Alles scheint sich nur noch um Markus zu drehen. Auch das gibt es in Filmen manchmal. Diese Alltagshelden werden dafür jedoch belohnt. Bei Michael ist das deutlich schwieriger zu beurteilen. Nicht nur er selbst wird dabei immer wieder Zweifel bekommen, ob es das alles wert ist. Als Zuschauer geht es einem genauso.

Das regt natürlich zum Nachdenken an: Wie viel ist mir das Leben eines Angehörigen wert? Das ist umso bemerkenswerter, da es hier eben nicht um Partner und Partnerin geht, wo eine solche Selbstaufgabe eher vorkommt, sondern „nur“ um Brüder. Und so gern man seine Geschwister hat, ein derart enger Zusammenhalt ist selten. Entsprechend geht es einem auch zu Herzen, wenn vieles nicht so läuft, wie Michael sich das wünschen würde. Wenn er das Gefühl hat, dass Markus nicht mehr mitzieht, keine Dankbarkeit empfindet, dass am Ende alles vielleicht doch umsonst war. Man mag ihn als Helden des Alltags empfinden, das Leben eines Helden bleibt ihm jedoch verwehrt.

Und was macht der Rest …?
Der Beitrag vom DOK.fest München 2019 ist aber nicht nur als sehr persönliche Geschichte sehenswert. Vielmehr stellt er auch zur Diskussion, inwiefern die Gesellschaft in solchen Fällen nicht mehr tun müsste. Der Mangel an Pflegekräften ist kein wirkliches Geheimnis, immer wieder wird betont, dass zu wenige diesen Beruf ergreifen, auch weil Bedingungen und Entlohnung zu schlecht sind. In Vergessenheit geraten dabei manchmal die Privatmenschen, die sich daheim um Pflegebedürftige kümmern, weil sie nicht anders können oder wollen, ihre Liebsten nicht in Heime abgeben.

Das ist viel Stoff, dem Horn einem da mitgibt. Stoff, für den sie sich auch viel Zeit lässt. Ein wenig Geduld muss man hier schon mitbringen, wenn sie in einem überschaubaren Tempo die letzten Jahre wiedergibt. Denn da sind viele Alltagszenen dabei, zwangsläufig, kurze Momentaufnahmen, welche die Beziehung aufzeigen, ohne die Entwicklung voranzutreiben. Bruderliebe ist daher weniger für ein Publikum gedacht, dem es allein auf die Ergebnisse ankommt und wissen will: Und, wie ging das jetzt aus? Vielmehr ist der Film selbst eine Art Liebeserklärung, auf die man sich in ihrer Schönheit und Hässlichkeit einlassen können muss, wenn Verzweiflung und Hoffnung eng beieinander liegen.



(Anzeige)

„Bruderliebe“ zeigt, wie ein Mann sein eigenes Leben mehr oder weniger aufgibt, um sich um seinen Bruder zu kümmern, der nach einem Autounfall bettlägerig wurde. Der Dokumentarfilm ist dabei gleichzeitig Porträt einer bewundernswerten Selbstaufgabe, das auch die verzweifelten Momente nicht verschweigt, wie auch allgemeiner Denkanstoß, wie die Gesellschaft in solchen Fällen agieren sollte.