Idioten der Familie
© Nadja Klier

Idioten der Familie

Idioten der Familie
„Idioten der Familie“ // Deutschland-Start: 12. September 2019 (Kino)

Und was machen wir jetzt mit Ginnie (Lilith Stangenberg)? Jahrelang wurde es Heli (Jördis Triebel) überlassen, sich um die geistig behinderte jüngere Schwester zu kümmern. Doch irgendwann wurde es auch ihr zu viel. 40 Jahre ist Heli inzwischen, hat vieles aufgegeben für das Nesthäkchen, auch weil die drei Brüder Bruno (Florian Stetter), Tommy (Hanno Koffler) und Frederick (Kai Scheve) zu sehr mit ihren eigenen Leben beschäftigt waren. Und so entschließen sie sich, die Schwester nun doch in ein Heim zu geben, das sei doch das Beste für alle. Oder vielleicht doch nicht? Als die fünf einen Tag zuvor noch einmal zusammenkommen, brechen alte Konflikte wieder auf. Und auch Ginnie zeigt sich von einer streitlustigen Seite …

Wenn Familienmitglieder nach langer Zeit zusammenkommen, dann kann das in Filmen eigentlich nur eines bedeuten: Ärger. Die Begrüßungen sind euphorisch, man nimmt sich in den Arm, ein Küsschen hier, ein Küsschen dort. Doch sitzt man erst einmal eine Weile zusammen, wird schnell klar, warum man sich so lange nicht gesehen hat. Zu viel ist vorher geschehen, zu unterschiedlich sind die Charaktere, je weniger man sich im Alltag sieht, umso besser ist das Verhältnis. Dann kann man nämlich so tun, als wäre alles in Ordnung, als wäre man noch eine Familie.

Fragen über Fragen
Nur Heli kann das nicht. Die ist – aus nachvollziehbaren Gründen – nicht wirklich gut auf ihre Brüder zu sprechen, die rauszogen in die Welt, um sich selbst zu verwirklichen, während sie daheim bleiben musste, um sich um Ginnie zu kümmern und ihre eigenen künstlerischen Ambitionen begraben musste. Ob das eine freiwillige Entscheidung war, sie es tatsächlich aus Verantwortungsbewusstsein getan hat oder sie einfach nur von den anderen vor vollendete Tatsachen gestellt wurde, das wird nie ganz geklärt. Allgemein hält sich Idioten der Familie sehr mit Vorgeschichten und Kontexten zurück. Das Drama erzählt von der Gegenwart und fragt, was in Zukunft sein soll.

Dass die Antworten irgendwo in der Vergangenheit begraben sind, das verrät Regisseur und Co-Autor Michael Klier schon. Er hält sich aber nicht damit auf, ein wirklich ausführliches Familienporträt zu zeichnen. So streut er Hinweise, dass Ginnie vielleicht einen anderen Vater hatte. Auch die Konkurrenz unter den Brüdern muss eine Vorgeschichte haben, so viel schimmert durch. Idioten der Familie geht dem aber nicht weiter nach, erklärt relativ wenig, bleibt auch bei den Figuren nur schemenhaft. Gerade bei den Männern im Film machte man es sich schon recht einfach, verzichtet auf größere Nuancen, gesteht ihnen auch nur relativ wenig Entwicklung zu.

Und wer muss nun ran?
Während die dann auch irgendwo zwischen langweilig und unsympathisch angesiedelt sind, sieht es bei den Frauen schon anders aus. Heli als passiv-aggressive, reichlich verbitterte Verliererin darf einem immerhin leid dafür tun – auch wenn sie sich als Hohn anhören muss, wenigstens eine Ausrede für ihr Scheitern zu haben. Doch der Dreh- und Angelpunkt ist natürlich Ginnie, wie einst in Wild von einer hemmungslos auftretenden Lilith Stangenberg verkörpert. Sie grunzt und schreit, windet sich und sucht doch körperliche Nähe. Auch sie bleibt ein Rätsel, gleichermaßen für die Geschwister wie für das Publikum. Eines jedoch, das trotz der fehlenden Antworten sehenswert ist. Was geht in ihr vor? Wie viel versteht sie von dem, was um sie herum geschieht? Aber auch: Wie viel von ihrer Isolation ist gewählt, wie viel von außen erzwungen. Es ist einer der seltenen interessanten Gedanken, welche die Brüder beisteuern: Vielleicht ist sie nur deshalb geistig behindert, weil sie von anderen immer wie eine behandelt wurde und deshalb nie die Möglichkeit erhielt, sich selbst zu entfalten.

Das ist dann auch eines der großen Themen des Dramas, das beim Filmfest München 2018 Weltpremiere hatte: Individualismus vs. Verantwortung. Die Zeiten von Großfamilien sind in westlichen Ländern vorbei. Dass man sich um deutlich jüngere Geschwister kümmert, ist rar geworden, familiäres Pflichtbewusstsein weicht einem größeren Selbstentfaltungstrieb. Heute darf man deutlich egoistischer sein, man muss es sogar auch. Wo aber beispielsweise Bruder Schwester Herz diesen Zwiespalt als ambivalentes Verhältnis darstellt, da ist in Idioten der Familie die Sachlage eindeutiger, Klier prangert recht offen an, dass der Wunsch nach einem eigenen Leben Selbstsucht war. Dem kann man nun zustimmen oder nicht. So oder so ist der Film ein willkommener Anlass, um das Thema zumindest mal anzusprechen und sich eigene Gedanken zu machen. Wie sollte die Balance aus Selbstverwirklichung und Rücksichtnahme aussehen? Wann führt die eigene Freiheit zur Unfreiheit von anderen? Und wie wollen wir mit schwächeren Menschen umgehen?



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In „Idioten der Familie“ kommen vier Geschwister noch einmal zusammen, um sich von der geistig behinderten Schwester zu verabschieden, die in ein Heim kommen soll. Das ist recht grob gezeichnet, es fehlen sowohl Nuancen bei den Figuren wie auch erhellende Kontexte und Vorgeschichten. Dafür funktioniert das gut besetzte Drama als Denkanstoß, wie viel Selbstverwirklichung uns zusteht und welche Verantwortung wir für andere haben.
6
von 10