88

(„88“ directed by April Mullen, 2014)

88Sie weiß nicht, wer sie ist, wo sie ist oder was sie mit der Waffe vorhatte, die sie in ihrer Handtasche findet: Als Gwen (Katharine Isabelle) in einem Imbiss zu sich kommt, ist ihr Leben ein undurchsichtiges Gestrüpp aus Halberinnerungen und Indizien. Andere scheinen sie dafür umso besser zu kennen, zum Beispiel der lokale Gangsterboss Cyrus (Christopher Lloyd), der es auf ihr Leben abgesehen hat. Und dann wäre da noch Ty (Tim Doiron), der sie immerzu Flamingo nennt, offensichtlich die letzten Stunden mit ihr verbracht hat und sie dazu drängt, den gemeinsamen Plan zu Ende zu führen – an den sie sich aber ebenfalls nicht mehr erinnern kann.

Wer sich über 88 informieren will und Rezensionen liest, wird dabei unweigerlich immer wieder über einen Vergleich stolpern: Memento. Tatsächlich haben der Beitrag vom diesjährigen Fantasy Filmfest und sein berühmter Vorfahr einiges gemeinsam. Da wäre zum einen der an Gedächtnisverlust leidende Protagonist, ein im Thrillergenre seit Jahrzehnten beliebtes Element. Das verknüpfte Christopher Nolan seinerzeit jedoch mit einer nicht-chronologischen Erzählweise, die sich abwechselnd der Gegenwart, dann der Vergangenheit zuwendete, um die Vorgeschichte der Gegenwart zu zeigen, zu erklären, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Regisseurin April Mullen, die auch für die Geschichte mitverantwortlich war, macht das ganz ähnlich, wenn auch weniger ambitioniert und wendungsreich.

Und innerhalb dieses Rahmens schlägt Mullen ohnehin ganz andere Töne an. Anders als der sich chronisch ernstnehmende Nolan wird bei seiner Kollegin Humor groß geschrieben. Und mit blutroter Farbe. Tatsächlich steht beim konkreten Inhalt dann doch eher Quentin Tarantino mit seinen schwarzhumorigen Gewaltexzessen Pate. Teilweise ist 88 dann auch tatsächlich wirklich witzig, der geschliffenen Dialoge wegen, der teils skurrilen Figuren, und auch der eine oder andere absurde Einfall lädt mindestens zum Schmunzeln ein. Nur waren die Drehbuchautoren an der Stelle nicht konsequent genug, der Film findet nie zu einem einheitlichen Ton, ist mal herkömmlicher Rachethriller, dann wieder überzogene Groteske.

Das zweite inhaltliche Problem betrifft die Vorhersehbarkeit: Wer auch nur ansatzweise Filme dieser Richtung gesehen hat – was man bei Besuchern des Fantasy Filmfests wohl erwarten kann –, dann wird man zur Hälfte des Films bereits schon ahnen, wohin der Hase läuft. Natürlich kann und sollte man nicht bei jedem Film erwarten, dass er einen überrascht. 88 will aber genau das, durch seine Erzählstruktur wie auch Twists, scheitert letztendlich jedoch an dem eigenen Anspruch.

Schwankende Tonalität hin, wenig origineller Inhalt her – eines bleibt den gesamten Film über auf einem hohen Niveau: die Besetzung. Katharine Isabelle wechselt bravurös zwischen eingeschüchterter Gwen und lasziv-gewalttätiger Flamingo hin und her. Und vor allem die Szenen mit Letzterer sind von einer unbeirrbaren und umwerfenden Kaltschnäuzigkeit. Ihr an die Seite gestellt sind ein paradiesvogelartig aufspielender Tim Doiron und der kaum wiederzuerkennende Christopher Lloyd, der hier etwas untypisch den schmierigen Gangsterboss gibt. Das reicht zwar alles nicht aus, um insgesamt über ein solides Niveau hinauszukommen, schon in einem Jahr wird sich kaum einer mehr an 88 erinnern. Dass der Film bislang nicht für Deutschland angekündigt ist, sollte also niemanden allzu sehr betrüben. Wer ihn aber ohnehin irgendwo zu sehen bekommt, wird dabei wenigstens kurzweilig unterhalten.



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Vertrackte Erzählstruktur trifft schwarzhumorigen Rachethriller: „88“ orientiert sich an bekannten Vorbildern, ohne diese aber wirklich zu erreichen, dafür ist das Ganze zu uneinheitlich und vorhersehbar. Kurzweilig ist der Film jedoch, streckenweise richtig witzig und zudem gut besetzt.
6
von 10