© Constanze Schmitt

Eliza Petkova [Interview]

Ziege, Esel, Hund, Pferd, Katze, Lamm: In Stille Beobachter erhebt Regisseurin Eliza Petkova einfache Dorftiere zu Protagonist*innen und stellt die im bulgarischen Dörfchen Pirin lebenden Menschen in den Hintergrund. Die Mischung aus experimenteller Bildkomposition, entschleunigter Atmosphäre und dem Damoklesschwert, das über der traditionellen Lebensweise schwebt, überzeugte nicht zuletzt das DOK.fest München, auf dem Stille Beobachter als bester Dokumentarfilm prämiert wurde. Am 11. Dezember 2025 folgt der deutsche Kinostart, in Zuge dessen wir uns mit der seit 2009 in Berlin wohnenden Filmemacherin unterhielten. Dabei beschreibt sie, welche Art von Magie in Pirin innewohnt, wie bzw. ob eine tierische Perspektive auf die Umgebung eingenommen werden kann und welche zukünftigen Chancen das Leben auf dem Land bieten könnte.

Stille Beobachter wurde aus der Perspektive der Tiere gefilmt. Was nimmt ein Tier wahr, was ein Mensch nicht wahrnimmt, und wie gelang es dir, dich in die Tiere hineinzuversetzen?

Ich bin der Meinung, dass wir als Menschen niemals wissen können, was eine Tierperspektive ist. Wenn wir dies behaupten, ist es eine menschliche Interpretation. Mein Anliegen bei Stille Beobachter war es, dass wir uns als Publikum primär mit den Tieren identifizieren, anstatt die Identifikation mit ihren Besitzer*innen zu suchen. Das war das Experiment oder auch die Wagnis bei diesem Film: Ist es möglich, dass man Menschen im Bild sieht, ohne dass sie zu Protagonist*innen werden? Und dass die Tiere diejenigen sind, die den Fokus dieses Filmes tragen, als Charaktere und Wesen?

Dass man überhaupt so nah an diese Tiere herankommt und man das Gefühl hat, man betrachtet die Welt aus ihrer Sicht, lag daran, dass wir tatsächlich sehr viel Zeit mit allen einzelnen Tieren verbracht haben sowie versucht haben, so leise, offen und zart wie möglich zu ihnen zu sein und sehr viel Futter verteilt haben. Irgendwann war es so, dass sich die Tiere kaum bzw. nicht gestört von der Präsenz der Kamera und des Teams fühlten.

War es für dich selbst ein meditatives Erlebnis, in langen Einstellungen die Tiere zu beobachten? Was haben du und Kameraperson Constanze Schmitt über ihre Lebensweisen lernen können?

Das Wort meditativ trifft es ziemlich genau, weil wir teilweise viele Stunden in einem Stall verbracht haben oder an einem Ort, wo fast nichts passiert ist. So konnte man einfach die ganz kleinen Geräusche und die Bewegungen wahrnehmen. Dadurch ist man in so eine Art Zeitlosigkeit geraten, in einen gemeinsamen Tanz mit allen Wesen um einen herum. Für mich war es eine wahnsinnig positive, schöne und aufladende Erfahrung, mit den Tieren und mit so einem wundervollen Team drehen zu dürfen. Natürlich war Constanze Schmitt diejenige, die am meisten und am längsten die Nähe zu den Tieren haben musste. Manchmal stand das Stativ auf dem Kot der Schafe, weil es keinen anderen Platz gab, wo man sich hinstellen konnte. Das war halt Teil unseres Alltags.

Das bulgarische Dorf Pirin ist Hauptschauort deiner beiden letzten Filme – was verbindet dich mit der Region, wie kam es zur Wahl gerade dieser Location?

Pirin ist ein sehr, sehr besonderes Dorf, weil es zum Teil abgeschottet liegt. Es gibt keine Bus- oder Bahnanbindung dorthin. Es gibt keinen Supermarkt, keine Schule. Also leben die Menschen in diesem Dorf wie in einer isolierten Blase. Wahrscheinlich haben sich dort viele Traditionen und Aberglauben durch diese Abschottung erhalten. Ich habe dieses Dorf ganz zufällig 2012 bei einer Wanderung entdeckt und konnte es kaum glauben, dass es so einen Ort immer noch in meiner Heimat geben kann. Ich war total verzaubert.

Da ich zu diesem Zeitpunkt auch auf der Suche nach einem Dorf für meinen ersten Spielfilm Zhaleika war, der zwar fiktional ist, aber autobiografische Züge hat, dachte ich, Pirin ist der Ort, wo ich diese Geschichte realisieren möchte. Und da wir zu dem Zeitpunkt alle Studierende waren und der Film quasi ohne Budget entstanden ist, ohne jegliche Finanzierung, konnten wir uns keine Hotels oder Fahrten von anderen Städten aus leisten. Dann sind wir mit den Einheimischen zusammengeblieben, haben gemeinsam gelebt, gegessen, allgemein diesen Film gemacht, und dadurch sind auch tiefere Freundschaften entstanden.

Danach konnten uns einfach nicht auf Lebewohl verabschieden. Es war klar: Wir müssen wiederkommen, wir müssen weiterhin diesen Ort erforschen. Und nach dem Spielfilm gab es ein ganz natürliches Bedürfnis, dass man die realen Geschichten der Bewohnenden von Pirin erzählt. So kamen wir zur Langzeitbeobachtung mit der Beobachtungsdokumentation Bürgermeister, Schäfer, Witwe, Drache. Da haben wir vier Jahre lang gedreht, über alle vier Jahreszeiten. Tiere und Menschen leben in Pirin in einer sehr engen symbiotischen Beziehung zusammen – es war irgendwie falsch, diese Perspektive auszulassen. Es hat sich richtig angefühlt, den Kreis mit dieser Perspektive zu schließen. Und so ist die Trilogie entstanden: aus dem Bedürfnis, ein Zeitdokument über eine verschwindende Welt zu erschaffen.

Der Balkan, also auch Bulgarien, wird trotz EU-Mitgliedschaft von West- und Mitteleuropa immer noch merklich exotisiert-negativ dargestellt. Nun stellst du in Bürgermeister, Schäfer, Witwe, Drache und Stille Beobachter eben genau jene Art von bulgarischem Leben auf dem Land dar, wo Menschen abergläubisch sind, wo mit Nutztieren archaisch umgegangen wird. Meinst du, du schlägst da in jene Kerbe, die zu weiterer Stereotypisierung beitragen könnte?

Ich liebe diese Menschen und diesen Ort. Mein Anliegen ist es, das, was heute noch da ist, in zehn Jahren jedoch nicht mehr, wirklich zu konservieren. Das Dorf ist rapide am Verschwinden. Geht man nach dem ersten Spielfilm, den wir 2015 dort gedreht haben, hatte dieses Dorf 240 Anwohner*innen. Heute sind es etwa 70. Die Menschen sind nicht geflüchtet oder ausgewandert, sondern verstorben, weil das alte Menschen sind, die keine medizinische Versorgung haben und teilweise aufgrund kleinerer Krankheiten aus dieser Welt scheiden.

Also hat das Erschaffen dieses Zeitdokuments für mich nichts mit Exotisierung zu tun. Es hat etwas mit Faszination zu tun. Und auch mit Trauer. In meiner Heimat gibt es über 500 Dörfer, die komplett ausgestorben sind. Da sind nur noch Ruinen übrig. Man sieht zu, wie sich die Natur die Architektur zurückerobert, was an sich ein schönes Bild ist. Allerdings verschwinden damit Kultur und Menschenleben. Und dadurch, dass ich entschieden habe, die letzten 13 Jahre meines filmischen Schaffens diesem Dorf zu widmen, habe ich auch immer diesen Ort abgebildet. Ich ziehe diese Welt aber nicht vor. Ich habe auch andere Filme gedreht, die damit nichts zu tun haben, aber in Pirin ist es nun mal so. Somit wäre es falsch, es anders zu zeigen.

Siehst du dich eher als eine Repräsentantin des bulgarischen Films, machst du deine Filme mehr aus einer intrinsischen, persönlichen Motivation heraus, oder spielt da von allem ein bisschen mit hinein?

Diesen Anspruch habe ich nicht, denn ich betrachte mich eher, wenn man das überhaupt so pauschal sagen kann, auch als deutsche Filmemacherin, denn ich habe hier studiert, ich habe hier eine Filmsprache entwickelt und gelernt und habe tatsächlich die längere Zeit meines Lebens in Deutschland verbracht als in Bulgarien. Ich habe auch in Berlin meinen zweiten langen Spielfilm gedreht, auf Deutsch. Also hat mein Schaffen nicht direkt etwas mit bulgarischer Kultur zu tun, außer dass die Regie diese Herkunft hat. Aber natürlich gibt es dort, wo man aufgewachsen ist, Themen, die einen nach wie vor beschäftigen.

Und das ist wahrscheinlich auch ein ganz selbstverständliches Phänomen, dass wenn man schreibt, die Geschichten kommen, die auch oft mit diesem Ort in Verbindung stehen. Das stellt aber kein Vorhaben dar, als „bulgarische Stimme“ diesen Ort zu repräsentieren, oder diese Kultur aktiv zu gestalten als Filmemacherin. Die nächste Geschichte kann genauso in Berlin oder irgendwo anders in Deutschland oder woanders auf der Welt spielen.

Beeinflusst dich dann trotzdem die bulgarische Filmhistorie bei der Machart deiner Filme? Vor allem die 1960er und 1970er Jahre waren kinematographisch ähnlich experimentell.

Ich mache das, was mir intuitiv visuell, stilistisch und inhaltlich richtig erscheint. Ich habe keine bewussten Vorbilder. Mit Sicherheit gibt es viele Filme, die ich gesehen habe und die mich irgendwie berührt und inspiriert haben und die tief in meiner DNA als Spur geblieben sind. Vielleicht kommt dann später unbewusst auf irgendeine Art und Weise mal eine Inspiration heraus. Aber es gibt nicht die Filme oder die Filmemacher*innen, denen ich in meinem Schaffen folge. Und komischerweise schaue ich auch nicht so viele Filme. Also wenn ich bei einem Festival eingeladen bin, schaue ich so viele Filme wie möglich. Aber in meinem Alltag bin ich eher die Person, die jede Woche mehrmals auf Konzerte geht. Und das ist wahrscheinlich meine Inspirationswelt für mein eigenes Filmschaffen.

Mit Geschichten um Drachen, Vampiren oder Reinkarnation haben deine letzten beiden Filme einen magischen, folkloristischen Einschlag, obwohl sie dokumentarisch sind. Bringst du diese Magie selbst in die Schauplätze hinein oder versuchst du die Magie festzuhalten, die in den Orten innewohnt?

Es ist die Magie an diesem Ort, und zwar nicht nur als ein Gefühl, sondern in der Überzeugung der Einheimischen. Da ist diese Art von Aberglaube wirklich noch am Leben. Viele Phänomene, die man sich nicht anderweitig erklären will oder kann, erklärt man mit mystischen Wesen. Ein Beispiel: Es gibt keine jungen Frauen in dem Dorf. Wahrscheinlich gibt es sie nicht, weil sie keine Perspektive haben, sehr früh heiraten oder weggehen. Aber die Geschichte ist, dass ein Drache sie wegnimmt. Ich weiß, dass viele von Pirins Anwohner*innen das für absoluten Quatsch halten. Es ist jetzt nicht so die absolute Wahrheit, an der sie sich festklammern, aber trotzdem sind der Aberglaube, Wahrsagerei oder der Glaube an magische Fähigkeiten sehr stark präsent.

Das traditionelle Dorfleben neigt sich dem Ende zu. Wie schade findest du es, dass die von dir dargestellte Lebensweise langsam ausstirbt? Schließlich gibt es auch dort beispielsweise gefestigte patriarchale Strukturen und es wird ein teils mitleidsloser Umgang mit Tieren gepflegt.

Ich frage mich, was das größere ethische Problem mit sich bringt. Ob jemand, der ein Tier gefüttert hat, ein Leben lang auf es aufgepasst hat und dann irgendwann geschlachtet und gegessen hat, das größere Problem ist, oder halt so etwas wie Massentierhaltung. Wenn man die beiden Perspektiven vergleicht, würde ich sagen, es fühlt sich menschlicher und verständlicher an, wenn Menschen das, was sie selbst essen, auch fähig sind aufzuziehen, zu töten und die Verantwortung für das zu übernehmen, anstatt einfach zum Supermarkt zu gehen und sich dieser Verantwortung komplett zu entziehen.

Insgesamt finde ich es schade, dass dieses Leben ausstirbt, denn ich glaube, diese Art von Leben gehört zur Vielfalt dazu. Das sind auch so Sehnsuchtsorte. In meiner Kindheit habe ich jeden Sommer drei Monate im Dorf verbracht, wo man die Eier am Nachmittag geholt, Gartenarbeit geleistet und genau gesehen hat, woher unser Essen kommt und was es bedeutet, selbst anzubauen. Und ich glaube, das hat mir gutgetan. Ich finde es schade, dass jetzt mehr und mehr Generationen aufwachsen, ohne diesen Bezug zum Land und zur Selbstversorgung zu haben.

Nichtsdestotrotz sehe ich eine positive Entwicklung: Jetzt speziell in Bulgarien gibt es immer mehr die Tendenz, dass Menschen, meistens aus Westeuropa, Häuser in Dörfern kaufen, diese Häuser restaurieren, renovieren oder neu erbauen. Und es gibt zunehmend mehr Kultur, Künstler*innenresidenzen, Ateliers und Orte, wo sich zeitgenössische Subkulturen treffen und austauschen können. Ich hoffe, dass das eine Tendenz ist, die noch stärker wird. So könnten diese Landgebiete gerettet werden, denn wenn wieder Leben kommt, dann kommen auch wieder die Enthusiast*innen, die selbst anbauen und ein Dorf am Leben erhalten.

Gäbe es damit nicht das Problem der Gentrifizierung? Also, dass sich weniger Menschen das günstigere Leben am Dorf leisten können, gerade auch ältere oder kranke Menschen, wenn das Dorfleben hipper wird?

Das ist, denke ich, ein zweischneidiges Schwert: Es gibt natürlich diese Seite, dass dadurch Immobilien in ihrem Wert steigen und es schwieriger für Menschen wird, die in Bulgarien arbeiten, dort ihr Geld verdienen – und ärmer sind im Vergleich zu diesen dazugezogenen Menschen. Aber andererseits bringen die Dazugezogenen Arbeit, also brauchen sie Menschen, die mit anpacken. Und das sind die Einheimischen, die davon profitieren und sich wiederum ein besseres Leben leisten können sowie andere Perspektiven im Dorf bekommen. Und ich glaube, letztendlich ist es eine gute Tendenz. Insgesamt sehe ich das nicht kritisch. Mir ist lieber, es passiert das, als dass die Orte aussterben.

Die natürlichen Ebenen des Beobachtens spielen eine große Rolle im Film. Bereits ausgehend vom Titel, gibt es drei stille, beobachtende Perspektiven: die Kamera, die Zusehenden, die Tiere. Die darin vorkommenden Menschen werden mehr beobachtet, als dass sie beobachten, und sind dadurch auch eher auf dem Präsentierteller. Gleichzeitig sind die Beobachtenden die Protagonist*innen, die Beobachteten Statist*innen. Wie wichtig ist diese zweifache Rollenumkehr, um die Rollen der verschiedenen Spezies besser einordnen zu können, und möchtest du menschliche Eigenarten damit spezifisch bloßstellen?

Alles hat mit der Frage begonnen, ob man Tiere zur Identifikationsfläche bei Menschen machen kann, auch wenn Menschen mit im Bild sind. Und wenn ja, wie? Es war klar, man muss sie ausarbeiten. Das heißt, man muss sie wirklich porträtieren und ihre Besitzer*innen, eher im Hintergrund halten oder in Einstellungen, wo man nicht beginnt, sich mit dem Gesicht auseinanderzusetzen und dann diese Sehnsucht entwickelt: „Aber was ist jetzt mit der Oma? Ich will da mehr wissen. Warum steht alles, was mir erzählt wird, in Bezug auf dieses Tier?“ Es war ein gesuchter Effekt, dass diese Umdrehung passiert.

Ich habe mich schon immer gefragt, wieso wir Menschen als Spezies auf diesen Gedanken gekommen sind, dass wir die Klügsten, die Tollsten sind, dass wir die beste Gattung sind und das schließlich rechtfertigt, dass wir über andere Lebewesen verfügen. Und das stelle ich nach diesem Film noch mehr infrage. Aus dieser Sicht sind die Menschen auf dem Präsentierteller als Täter, weil es die Menschen sind, die etwas in einem Tier sehen, die etwas von einem Tier haben wollen, die entscheiden, was die Perspektive eines Tieres ist, über dessen Leben und Sterben. Warum denken wir, dass das selbstverständlich ist?

Braucht es Stille, um richtig beobachten zu können?

Ich glaube, man bräuchte innere Stille. Man kann wahrscheinlich auch an einem sehr lauten Ort, wo Chaos um einen herum herrscht, sehr gut beobachten. Solange man aber bei sich selbst ist und wirklich in Verbindung mit dem Gesehenen tritt, dann ist man ein*e Beobachter*in.



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