
To a Land Unknown von Mahdi Fleifel zeichnet ein gnadenloses Bild von Flucht und Überleben in Europas Schattenzonen, fernab jeder wohlfeilen Sonntagsrhetorik. Im Zentrum stehen die palästinensischen Cousins Chatila (Mahmood Bakri) und Reda (Aram Sabbah), die in Athen notdürftig ihr Leben fristen, geprägt von Kriminalität, Armut und einem Traum: nach Deutschland zu kommen und dann Chatilas Frau und Sohn nachzuholen und ein Café zu eröffnen. Malik (Mohammad Alsurafa), ein alleinreisender 13-jähriger Flüchtling, gesellt sich zu den beiden, und was anfangs eine lose Zweckgemeinschaft ist, wird einer Familie immer ähnlicher – aber auch zu einer Chance, doch noch dem Traum näherzukommen. Die Figuren sind nicht als Repräsentanten „der Flüchtlinge“ gezeichnet, sondern als Individuen, deren Biografien vor der Flucht angedeutet bleiben und gerade dadurch eine beklemmende Offenheit behalten.
Moralische Verzweiflung
Fleifels Kamera ist kaum mehr ein stiller Beobachter, sie drängt sich förmlich auf, wenn sie hinter den Protagonisten herjagt: mal atemlos, mal mit fast schon poetischer Ruhe, die wie kurze Inseln der Kontemplation inmitten des Getriebenseins wirken. Die Parks von Athen, enge Unterkünfte und schäbige Zimmer bilden einen gnadenlosen Lebensraum, der jegliche Fluchtromantik erstickt. Man spürt förmlich den Schweiß in den stickigen Wohnungen, die Müdigkeit in den Gesichtern und die unruhige Nachtluft vor den Türen. Spannung entsteht hier nicht durch schnelle Schnitte oder Action, sondern durch die wachsende Bedrohung und die moralische Verzweiflung der Figuren – eine beklemmende Atmosphäre, in der Thrillerelemente den Überlebenskampf greifbar machen. Athen erscheint als labyrinthische Zwischenwelt, in der Licht und Schatten, Zufall und Schulden, Hoffnung und Verrat unentwirrbar ineinandergreifen. Mit der Zeit verschärft sich dieser Ton merklich; was als realistisches Flüchtlingsdrama beginnt, entwickelt sich immer mehr zu einem Thriller um eine riskante Fortsetzung der Flucht.
Die Figuren wirken dabei bemerkenswert ambivalent: Chatila ist der nüchterne Stratege, der sich durch jede moralische Grauzone manövriert, um seine Familie zu retten; Reda, der verletzliche und drogenabhängige Cousin, zeigt kleine Risse im harten Überlebenspanzer. Malik steht für unschuldige Jugend, die im Strudel der Flucht und Illegalität bedroht ist – aber auch er wird nicht romantisiert, sondern als Kind gezeigt, das schnell lernt, wie man in dieser Welt funktionieren muss. Um sie herum bewegen sich Gestalten wie Marwan (Monzer Reyanah), der Schleuser, der am Leid der anderen verdient, oder Abu Love (Mouataz Alshaltouz), der Dealer, der Drogen verkauft und gleichzeitig Gedichte rezitiert – Figuren, in denen sich Geschäftssinn, Zynismus und eine fragile Restkultur überlagern. Dazu kommt noch Tatiana (Angeliki Papoulia), die einzige Griechin mit größerer Rolle: Sie ist keine Retterin, sondern selbst eine verzweifelte Frau, die sich in die riskanten Machenschaften verstrickt. Fleifel zeigt keine Helden, sondern Menschen, gefangen in einem System, das sie zur Illegalität zwingt, und deren Handeln nie nur schwarz-weiß ist.
Still aber wirkungsvoll
Ihre Taten – Diebstähle, Manipulationen oder der Gebrauch eines Kindes als Mittel zum Zweck – inszeniert der Film nüchtern, ohne Urteil, um die Verantwortung nicht dem Einzelnen, sondern strukturellen Zwängen zuzuschreiben. Die moralische Frage ist dabei nie abgeschlossen: Wie weit darf man gehen, um einem Leben im Elend zu entkommen? Wann kippt Notwehr in Skrupellosigkeit? Dass Fleifel hier jede bequeme Antwort verweigert, macht den Film beinahe verstörend. Politisch ist To a Land Unknown ein stiller, aber wirkungsvoller Ankläger. Er offenbart die Realität europäischer Grenzpolitik als ein Geflecht aus Ausbeutung, menschlichem Elend und zermürbendem Dauerprovisorium. Athen wird zu einem Niemandsland, das keine Flucht, sondern Gefangenschaft bedeutet – und der Film macht klar, dass moralische Unschuld hier ein Luxus ist, den sich niemand leisten kann.
Statt Poetisierung setzt Fleifel auf schonungslose Realitätssicht, die keine Erlösung verspricht, sondern einen Zustand beschreibt: Flucht ohne Ankunft. Der Film verweigert sich konsequent dem Trost des gelungenen Ausbruchs oder der moralischen Läuterung, er endet eher als offener, schmerzhafter Zustand denn als abgeschlossene Erzählung. Dies macht To a Land Unknown zu einem eindringlichen Porträt vom steten Kampf ums Dasein, dessen bitterer Kern ungeschönt vor Augen geführt wird. Gerade weil der Film nichts erklärt und nichts beschönigt, bleibt er noch lange nach dem Abspann als bohrende Frage im Kopf zurück: Was sind wir bereit zu sehen – und was lieber nicht?
OT: „To a Land Unknown“
Land: UK, Dänemark, Griechenland, Niederlande, Palästina, Frankreich, Deutschland, Saudi-Arabien, Katar
Jahr: 2024
Regie: Mahdi Fleifel
Buch: Mahdi Fleifel, Fyzal Boulifa, Jason McColgan
Musik: Nadah El Shazly
Kamera: Todoros Mihopoulos
Besetzung: Mahmoud Bakri, Aram Sabbah, Angeliki Papoulia, Mohammad Alsurafa, Monzer Reyahnah,Mouataz Alshaltouh, Mohammad Ghassan, Manal Awad
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