
Nablus, Westjordanland, im Jahr 1988: Der Teenager Noor (Muhammad Abed Elrahman) ringt mit dem Tod. Die Kugel eines israelischen Soldaten trifft ihn, als er sich spontan einer palästinensischen Demonstration im Rahmen der ersten „Intifada“ anschließt. Seine Mutter Hanan (Cherien Dabis) und sein Vater Salim (Saleh Bakri) versuchen alles, um den schwer Verletzten in ein Krankenhaus in Haifa auf israelischem Gebiet zu bringen. Schon länger wollte Noor, als Kind „der Altkluge“ genannt, nicht mehr auf die Eltern hören. Dass er sich politisch radikalisierte, hängt mit der Geschichte seiner Familie zusammen, deren Traumata über drei Generationen nachwirken, eng verflochten mit der Historie ihres Volkes. Regisseurin (und Hauptdarstellerin) Cherien Dabis, die selbst aus einer palästinensischen Familie stammt, erzählt beides – das Persönliche und das Politische – in einem berührenden epischen Bogen, der mehr als 70 Jahre umspannt, von 1948 bis 2022.
Nachhilfe in Geschichte
Noors Mutter Hanan schaut als alte Frau direkt in die Kamera: „Sie wissen nicht viel über uns“, sagt sie mit bewegter Stimme. Das werfe sie niemandem vor. Aber um ihren Sohn zu verstehen, müsse man sich anhören, was seinem Großvater Sharif (Adam Bakri) widerfahren sei. Zu wem spricht Regisseurin und Hauptdarstellerin Cherien Dabis (Amreeka, 2009) in diesem Moment? Das ist nicht klar in den ersten Filmminuten. Aber ihr Statement kann man durchaus als Programm des ganzen Films lesen. Im Presseheft formuliert es die Regisseurin so: „Es hat mich immer traurig gemacht, dass so viele Menschen auf der Welt gar nicht wissen, was so vielen Palästinenser*innen 1948 widerfahren ist, als der Staat Israel gegründet wurde.“ Eine filmische Geschichtsstunde als Nachhilfeunterricht also. Kann das funktionieren? Die kurze Antwort lautet: in gewisser Hinsicht schon. Tatsächlich ist es ja wahr, dass die Geschichte Israels im Kino deutlich präsenter ist als diejenige des Volkes, dem schon 1948 eine Zweistaatenlösung versprochen wurde.
Das Geschichtsdrama springt also nach dem Beginn im Jahr 1988 zurück ins Jahr 1948, als die Vereinten Nationen das britische Mandat über Palästina beendeten und einen Teilungsplan für die Region vorschlugen. Die Israelis rufen daraufhin einen eigenen Staat aus. Die arabischen Staaten, die gegen die UN-Pläne waren, greifen diesen Staat militärisch an und verlieren. Die israelische Armee besetzt neue Gebiete in Palästina. Noors Großvater Sharif lebt zu dieser Zeit in Jaffa, ein wohlhabender Familienvater mit einer großen Plantage der einst so berühmten, nach ihrer Herkunft benannten Orangensorte.
Als die Israelis die Stadt einnehmen, widersetzt sich Sharif so lange wie möglich der Flucht und Vertreibung, von der rund 700 000 seiner Landsleute betroffen sind. Doch sein Widerstand ist zwecklos. Irgendwann wird er verhaftet, kommt in ein Arbeitslager und trifft seine zuvor in Sicherheit gebrachte Familie erst im besetzten Westjordanland wieder, als gebrochener Mann mit einem Trauma, das nachwirkt. Als „Nakba“ (= „Katastrophe“ auf Arabisch) wird die Geburtsstunde des palästinensischen Leids bezeichnet, die auch in die Familie der in den USA geborenen Regisseurin hineinwirkt. Ihr Vater verbrachte die meiste Zeit seines Lebens im Exil. Die Sehnsucht nach der Heimat war am Küchentisch immer präsent. Auch in den Film floss ein Teil dieser Erzählungen und Erfahrungen ein.
Außergewöhnliches Männerbild
In seinem persönlichen Erzählstrang besticht das epische Drama besonders durch die liebevoll gezeichneten Vater-Sohn-Beziehungen, erst zwischen Sharif und Salim, dann zwischen Salim und Noor. Die zärtlich-spielerischen Alltagsepisoden zeugen von einem Männerbild, das außergewöhnlich ist für die damaligen Zeiten. Und sie bauen für die späteren Spannungen zwischen den drei Generationen eine berührend hohe emotionale Fallhöhe auf. Mittendrin steht Noors Mutter Hanan, für die sich die Regisseurin ebenfalls eine starke Rolle ins Drehbuch geschrieben hat: als kluge Frau des Ausgleichs und der Verständigung. Denn selbst wenn die drei Männer in all ihrer Unterschiedlichkeit komplex und warmherzig gezeichnet sind, so scheitern sie doch jeder auf seine Weise an den Herausforderungen, die das politische Schicksal ihres Volkes ihnen aufbürdet. Erst die Vernunft der Ehefrau, Schwiegertochter und Mutter ermöglicht dem Familienschiff, immer wieder einen sicheren und friedlichen Hafen anzusteuern. Noors Wut auf die Besatzer ist die tragische Ausnahme, in der das nicht gelingt.
Und so sind es die äußeren Umstände, die es dieser Familie verunmöglichen, das glückliche Leben zu führen, zu dem sie eigentlich fähig wäre. Man könnte auch sagen, es sind die bösen Israelis, die das verhindern. Denn aus Sicht des Films erscheinen die feindlichen Soldaten wie unmenschliche Unterdrücker, wie Sadisten mit Freude an Demütigungen, wie brutale Eroberer ohne jedes Mitgefühl. Das ist angesichts der Komplexität des Nahostkonflikts ziemlich gewagt und nur aus der Intention der Regisseurin zu verstehen, auch einmal den Palästinensern filmisches Gehör zu verschaffen. Wobei die Ereignisse des 7.Oktober 2023 und der anschließende Krieg auf den Film, der damals gerade in der Vorproduktion steckte, nur noch wenig Einfluss hatten. Somit ergibt sich für diejenigen Zuschauerinnen und Zuschauer, die die Prämisse der Regisseurin mitgehen, eine durchaus sehenswerte, wuchtige und berührende Geschichtslektion. Wer sich allerdings mehr Ausgewogenheit in der Darstellung beider Konfliktparteien erhofft, dürfte manche Passagen als konstruiert und holzschnittartig betrachten.
OT: „Allly baqi mink“
Land: Jordanien, Griechenland, Deutschland, Zypern, Palästina, Katar, Saudi-Arabien
Jahr: 2025
Regie: Cherien Dabis
Drehbuch: Cherien Dabis
Musik: Amine Bouhafa
Kamera: Christopher Aoun
Besetzung: Saleh Bakri, Cherien Dabis, Adam Bakri, Maria Zreik, Mohammad Bakri, Muhammad Abed Elrahman
Sundance Film Festival 2025
Zurich Film Festival 2025
Filmfest Hamburg 2025
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