Der israelische Regisseur Eran Riklis ist bekannt für seine kritische Haltung gegenüber der Politik seines Heimatlandes. Seit Jahrzehnten erzählt er filmische Geschichten, in denen sich das persönliche Schicksal seiner Charaktere fast unauflöslich und manchmal tragisch mit den gesellschaftlichen Strukturen und den politischen Verwerfungen des Nahen Ostens verwebt. In seiner neuesten Arbeit beschäftigt er sich erstmals mit dem Iran und besonders mit der weiblich geprägten Oppositionsbewegung gegen das geistliche Regime. Seine Verfilmung des autobiografisch geprägten Erfolgsromans von Azar Nafisi, Lolita lesen in Teheran, handelt von einer Dozentin, die während der Revolution 1979 aus den USA in ihre Heimat Iran zurückkehrt, mit großen Hoffnungen auf Veränderungen. Doch schon bald wird die Diktatur des Schahs durch die nicht weniger totalitäre Herrschaft der Ayatollahs abgelöst. Azar, gespielt von Golshifteh Farahani, verlässt wegen des Kopftuchstreits die Universität, gründet aber Jahre später eine Art Geheimhochschule in ihrem Wohnzimmer. Vermittelt über das Lesen verbotener Bücher reflektieren ihre Studentinnen über die Unterdrückung der Frauen, über das Widerstandspotential der Literatur und über das Hineinschlüpfen in andere Rollenbilder. Zum Kinostart am 20. November 2025 sprachen wir mit Eran Riklis über die Rolle der Literatur in seinem Leben, die Arbeit mit den Schauspielerinnen – und Filmemachen als Form des Widerstands.
Wann haben Sie das Buch von Azar Nafisi zum ersten Mal gelesen?
Es erschien im Jahr 2003. Ich las es in 2009, nach meinen Filmen Die syrische Braut und Lemon Tree. Ich dachte gleich, das ist eine Geschichte für mich. Denn sie dreht sich um Frauen, um Konflikte, um Unterdrückung und um viele andere Themen, die mir nahe sind. Aber ich war sehr beschäftigt in diesem Jahr und in den darauf folgenden. Erst 2016 griff ich wieder darauf zurück und traf die Autorin Azar Nafisi. Meine erste Frage an sie war, ob es für sie Sinn machen würde, wenn ein israelischer Regisseur ihre in erster Linie iranische Geschichte erzählen würde. Sie sagte, das sei eine großartige Idee. So begann meine Arbeit an dem Film.
Was hat sie am meisten bei der Lektüre fasziniert?
Ich suche immer nach Geschichten, die sich um Individuen in einem politischen Konflikt drehen, in einer Gesellschaft, die von verschiedenen Themen zerrissen wird. Ich finde es interessant, wie der oder die Einzelne sich wehren, wie sie ihre Identität schützen und wie sie für ihre Freiheit kämpfen. In diesem Buch hatte ich eine starke Protagonistin, nämlich Azar Nafisi selbst, umgeben von interessanten Frauen, aber auch von interessanten Männern. Obwohl es sich um den Iran in den 1980er und 1990er Jahren handelt, also um eine Welt weit entfernt von den westlichen Gesellschaften, dachte ich, diese Geschichte könnte überall und zu jeder Zeit spielen. Es geht um das Individuum im Konflikt mit der Gesellschaft.
Das ist nicht der erste Roman, den Sie verfilmen. Ihre Liebe zur Literatur kam, wie ich in einem Interview gelesen habe, sogar noch vor der Liebe zum Kino. Mit welchem Roman hat alles angefangen?
Als ich 14 war, haben wir in der Schule Einer flog übers Kuckucksnest von Ken Kesey gelesen. Ich lebte damals in Brasilien, weil mein Vater bei der israelischen Botschaft arbeitete, und ging auf eine amerikanische Highschool. Das war eine interessante Konstellation. In Brasilien herrschte damals, Ende der 1960er Jahre, eine Militärdiktatur. In der amerikanischen Schule tobte die Auseinandersetzung um den Krieg in Vietnam und ich war als Israeli mittendrin, kurz nach dem Sieben-Tage-Krieg in unserem Land. Die Lektüre dieses Buches änderte meine Sicht auf nahezu alles. Ich war davon fasziniert und hatte tatsächlich die Idee, daraus einen Film zu machen. Natürlich kam mir einige Jahre später Miloš Forman dann zuvor (lacht).
Was bedeutet Ihnen heute noch Literatur? Ist sie eine Möglichkeit, sein eigenes Leben besser zu verstehen?
Ich gehöre zu einer Generation, die noch Bücher liest. Es ist immer gut, ein Buch physisch in der Hand zu haben und nicht auf dem iPad zu lesen. Ich habe zwei Antworten auf Ihre Frage. Erstens lese ich als Privatmann gerne gute Geschichten, zweitens halte ich als Filmemacher immer Ausschau nach neuen Stoffen. Bücher bieten die größte Freiheit für einen Geschichtenerzähler. Man kann in der Fantasie überall hinreisen und sich alles Mögliche oder Unmögliche ausdenken. Es gibt keine Beschränkungen, man braucht nur Papier und Stift oder einen Laptop. Im Kino ist das komplizierter, man ist eingeschränkter und abhängiger von äußeren Bedingungen. In gewisser Hinsicht beneide ich die Schriftsteller ein wenig darum, dass sie schreiben können, was immer sie wollen.
Haben Sie daran gedacht, das Drehbuch für Lolita lesen in Teheran selbst zu schreiben? Oder wollten Sie von Anfang jemand anderen an Ihrer Seite haben?
Aus dem Roman ein Drehbuch zu entwickeln, ist eine Herausforderung. Denn der Roman ist recht komplex. Es gibt darin viele Ebenen, nicht nur die eigentliche Geschichte, sondern zum Beispiel auch eine akademische Reflexion über Literatur. Deshalb dachte ich, dass ein feinfühliger professioneller Autor hilfreich sein könnte. Und ich fand die erfahrene US-Amerikanerin Marjorie David. Dadurch hatte ich einerseits den Roman selbst, also die Perspektive einer iranischen Frau, und zudem eine amerikanische Sichtweise, ebenfalls von einer Frau. Ich glaube es war eine gute Entscheidung, die unterschiedlichen Kräfte in dieser Weise zu vereinigen. Azar Nafisi war übrigens in die Arbeit am Drehbuch nicht involviert. Aber als ich ihr die fertige Version schickte, schrieb sie mir nur einen Satz zurück: „Danke, dass Sie mein Buch verstanden haben“.
Eine Buchverfilmung muss immer etwas weglassen. Worauf wollten sie den größten Akzent legen bei diesem komplexen Stoff?
Essentiell sind für mich diese wöchentlichen geheimen Treffen bei der Dozentin Azar zu Hause, wenn die Frauen zusammen kommen, die verbotenen Bücher lesen und darüber sprechen. Schon früh habe ich mir gesagt, wenn ich mutig genug wäre, würde ich den Film nur auf dieses Kammerspiel fokussieren: ein Drehort, ein Raum, die Frauen treten herein, lesen, erzählen ihre persönlichen Geschichten und gehen wieder nach Hause. Aber natürlich ist man nie mutig genug (lacht). Außerdem wollte ich auch die Universität, die Straßen und das alltägliche Leben unter dem Regime zeigen. Trotzdem sind die Szenen in Azars Wohnzimmer das Herz des Films.
Nach welchen Kriterien haben Sie nach den geeignetsten Schauspielerinnen für die acht wichtigsten Rollen gesucht?
Mir war wichtig, dass sie Iranerinnen sind. Heutzutage sieht man so viele Filme, in denen Israelis Palästinenser spielen oder umgekehrt. Deutsche spielen Amerikaner und so weiter. Oft sagen Leute, das ist egal, denn ein guter Schauspieler ist einfach ein guter Schauspieler. Aber in diesem Fall fand ich, ich bräuchte ausschließlich Iranerinnen und zwar Exil-Iranerinnen, weil ich niemanden, der noch dort lebt, in Gefahr bringen wollte. Das war eine lange Reise, denn ich wollte die in Frage kommenden Darstellerinnen persönlich treffen, in Paris, London, New York, Los Angeles oder Berlin. Letztlich traf ich die Entscheidung aufgrund ihrer Qualitäten als Schauspielerinnen, aber auch aufgrund ihrer Persönlichkeit und aufgrund der Frage, wie sie miteinander harmonieren würden. Es war ein langer, aber auch ein interessanter Prozess. Schlussendlich bin sehr stolz auf alle Darstellerinnen und Darsteller.
Sie sagen, die Frauen im Film hätten ihre eigenen Geschichten erzählt. Sie selbst hätten nur dabei geholfen, diese einzufangen. Wie genau muss man sich diese Arbeitsweise vorstellen?
Golshifteh Farahani und Zar Amir sind erfahrene Schauspielerinnen, aber wir hatten auch jüngere Kolleginnen dabei. Es waren viel Vertrauen, eine Menge Arbeit und intensiver Gedankenaustausch nötig, um die Beziehungen und die Gruppendynamik dieser Frauen herauszuarbeiten. Und dabei nicht in naheliegende Fallen zu tappen, sondern die Charaktere und Situationen in ihrer Tiefe auszuloten. In allen Fällen, auch bei den männlichen Schauspielern, gab es eine Verbindung zwischen den persönlichen Lebenserlebnissen dieser Menschen und ihren Rollen. Wir mussten viel miteinander reden und uns austauschen. Dabei wird der Regisseur eine Art Amateur-Psychologe. Es ging nicht darum, zu sagen, mach‘ mal und ich schaue zu und sage dir, ob es mir gefällt. Sondern es ging darum, zusammenzuarbeiten, aufeinander zu achten und etwas gemeinsam zu entwickeln. Außerdem musste ich viele äußere Details im Auge behalten, denn wir konnten natürlich nicht im Iran drehen, sondern haben uns für Rom entschieden, das dann im Film so aussehen musste wie Teheran. Viele Iraner, die den Film schon gesehen haben, waren beeindruckt, wie präzise uns das gelungen ist.
Warum haben Diktatoren aus Ihrer Sicht so viel Angst vor Büchern und vor der Kunst im Allgemeinen?
Für sie liegt die Gefahr in der Macht der Vorstellung. Sie wollen die Fantasie töten und verhindern, dass Leute nachdenken und sich etwas anderes vorstellen als die triste Unterdrückung, die sie ausüben. Wer offen für Bücher ist, ist auch offen für Ideen und für Diskussionen. Das kann dann bedeuten, dass man auch offen wird für Handlungen, für Aktionen, die etwas am Status quo ändern wollen. Das macht totalitären Regimen Sorgen. Deshalb sind die Künstler die ersten, die unter einer Tyrannei zu leiden haben.
In vielen Ihrer Filme haben Sie die Verquickung der persönlichen mit den politischen Umständen beleuchtet. Wie geht es Ihnen mit der aktuellen Situation in Israel und Palästina? Können Sie noch Drehbücher schreiben und Filmideen entwerfen, wenn Krieg herrscht?
In einer solchen Situation ist es umso wichtiger, nachzudenken und über Dinge zu schreiben, die relevant sind. Ich habe immer geglaubt, dass man sich nicht heraushalten kann, wenn man hier in Israel lebt. Das ist nicht Beverly Hills. Wir haben uns bewusst zu sein, was um uns herum vor sich geht. Seit ich Kind war, lebten wir immer in unruhigen Zeiten. Das ist die Natur dieses Landes, es ist die Natur des Nahen Ostens. Die beiden letzten Jahre mit dem Krieg in Gaza und die letzten vier Jahre mit allen innenpolitischen Spannungen bringen einen in eine Lage, in der man nur drei Möglichkeiten hat. Entweder man tut nichts und schließt Kompromisse. Oder man verlässt das Land, weil man es nicht mehr aushält. Oder man wehrt sich. Bei der dritten Option hat jeder seine eigenen Möglichkeiten, etwas zu tun. In meinem Fall ist es die Chance, Geschichten zu erzählen, die wichtig sind. Dabei will ich niemandem meine Meinung diktieren oder eine Botschaft vorgeben. Ich führe eine Geschichte vor und lasse das Publikum entscheiden. Bisher wurde Lolita lesen in Teheran in mehreren interessanten Ländern gezeigt, zum Beispiel in Spanien, Italien und Frankreich. Das Publikum für Arthouse-Filme in diesen Ländern erwartet eine solche Anregung zum Denken, auch in Deutschland. Die Menschen möchten Stoff zum Nachdenken haben, und auch zum Überdenken bisheriger Meinungen. Ich denke, manchmal ist es gut, eine Geschichte zu sehen, die einen dazu bringt, seine Haltung zu revidieren oder einen Sachverhalt aus einer neuen Perspektive zu sehen.
Arbeiten Sie bereits an Ihrem nächsten Film?
Ich arbeite an mehreren Projekten und weiß noch nicht, welches das nächste sein wird, das ich fertigstellen kann. Aber ich beschäftige mich mit einer Geschichte über einen israelischen Soldaten mit posttraumatischer Belastungsstörung. Er kommt aus dem Gaza-Krieg zurück und denkt, alles ist okay. Das ist es aber nicht. Natürlich gibt es diese klassischen Filme über posttraumatische Störungen, etwa die Filme über Vietnam-Veteranen. Trotzdem ist das aktuell ein Thema, das angegangen werden muss. Unsere Straßen hier sind voll von Leuten, die unter einer posttraumatischen Störung leiden. Wenn man sich nicht darum kümmert, wird das schlimme Folgen haben. Fast jede Woche höre ich von jemandem, der sich getötet hat, weil er die seelischen Qualen nicht mehr ausgehalten hat. Ich habe meine Geschichte auf Basis eines Romans geschrieben, der „Dog“ heißt, weil ein Hund eine wichtige Rolle im Leben des Protagonisten spielt. Ich hoffe, dass dies mein nächster Film werden kann. Weil es so wichtig ist, mit diesen Dingen klarzukommen, gerade in der jetzigen Situation.
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