Die Stadt ist ein Symbol des wirtschaftlichen Aufstiegs sowie des sozialen Miteinanders, spiegelt aber zugleich alle Schattenseiten der Moderne wider. Urbane Räume sind zugleich Stifter von Identität, weshalb nicht jede Metropole der anderen gleicht. Von der antiken Definition einer Stadt als logische Konsequenz des menschlichen Sozialtriebs sowie der Bestrebung, ein gutes Leben für alle zu erschaffen, haben wir uns jedoch schon lange entfernt. Die Theorien von Autoren wie David Harvey oder Henri Lefebvre nehmen aktuelle Phänomene wie Gentrifizierung vorweg und behandeln die Stadt als Abbild sozialer Hierarchien und zugleich als politische Landschaft einer Kultur. Ein Gang durch die Stadt verspricht Faszination und Ernüchterung gleichermaßen – wenn sich diese Extreme in einem Ort treffen und eine Identität schaffen. Insbesondere der wirtschaftliche Faktor ist zu beachten, etwa beim Entstehen der modernen Großstädte im 19. und 20. Jahrhundert. Die antike Utopie einer Stadt mag noch vorhanden sein, doch sie hat bei weitem nicht nur Positives hervorgebracht – vor allem aber hat sie Geister produziert.
Sobald ein sozialer Raum seine Identität aufgibt, wird er zu einem Nicht-Raum, einem Ort der Geister. David Harvey spricht davon, dass Städte Investitionsmaschinen sind – und zu Geisterstädten werden, wenn das Kapital abgezogen ist. Der US-Bundesstaat Kalifornien ist bis heute ein Synonym für wirtschaftliche Hoffnungen, zugleich aber auch ein Ort, an dem sich viele solcher Geisterstädte finden. Die US-amerikanische Regisseurin Lee Ann Schmitt widmet sich in ihrer ersten abendfüllenden Dokumentation genau diesen Nicht-Orten. In California Company Town zeigt sie eine Reihe ehemaliger Bergbau-, Holz-, Öl-, Landwirtschafts- und Militärstandorte. Über fünf Jahre suchte sie diese Städte auf, in denen einst Familien lebten, Kinder zur Schule gingen und Arbeiter ihre täglichen Einkäufe erledigten. Mittels eines Zusammenschnitts ihrer Aufnahmen mit Archivmaterial – etwa Werbeclips – begibt sich Schmitt auf Spurensuche nach der verlorenen Identität dieser Orte. Sie versucht, ihre Geschichte nachzuvollziehen, zu erklären und darzustellen, wie es zu ihrem Niedergang kam. Gleichzeitig stellt sie die Frage, was diese Nicht-Orte über unsere Zeit und den Kapitalismus aussagen.
Das Vermächtnis eines Versprechens
Wir sehen einen prächtigen Wald und einen Fluss. Die Szene erinnert an einen der vielen US-Western, in denen man ähnliche Aufnahmen der amerikanischen Natur sieht. Die Verbindung von Weite und Schönheit evoziert beinahe automatisch die Idee des amerikanischen Traums, der mit der Vorstellung grenzenloser Expansion einhergeht. Die Erzählerstimme Ronald Reagans betont diese Eindrücke und spricht von einem „Vermächtnis“, das es zu achten gilt. Auf die Schönheit folgt ein harscher Realitätscheck, wenn wir Bilder von Orten wie Calico, Darwin oder Emerson sehen – alles Orte, in denen einst Familien lebten und arbeiteten und die nun fast nicht mehr existieren. Nur ein paar Ruinen von Häusern, Schulen, Märkten und Fabrikanlagen erinnern an das, was hier einmal war. Die Natur musste dem Streben nach politischem und wirtschaftlichem Aufschwung weichen, doch nun scheint sie sich ihren Raum Stück für Stück wiederzuholen. Die postindustrielle Einöde, die Schmitts Kamera einfängt, zeigt die Konsequenzen des ewigen Optimierungs- und Expansionsdrangs. Schmitt lässt die Bilder für sich sprechen und denkt darüber nach, was geblieben ist von den Hoffnungen der Menschen, ihrer Arbeit und ihrem Zusammensein.
Jeder Ort hat in California Company Town eine eigene Geschichte. Durch das bereits erwähnte Archivmaterial oder durch Off-Kommentare beschwört Schmitt die Historie dieser Orte herauf. Sie zeigt eine Geisterstadt in der Nähe eines Ölfelds, dessen Maschinen schon seit vielen Jahren nicht mehr auf Menschen angewiesen sind. Wir blicken auf Orte wie Kaweah, wo einst eine sozialistische Utopie einen Gegenentwurf zum Kapitalismus bilden sollte. Der mächtige Mammutbaum, der noch immer steht, trägt aber nicht mehr den Namen „Karl Marx“, sodass kaum etwas daran erinnert, wofür dieser Ort einst stand. Schmitt dokumentiert einen schleichenden Prozess – oder vielmehr eine Regression: Die Natur holt sich ihren Raum zurück, und die Erinnerung verblasst. Ihr Film will diese Erinnerung jedoch bewahren und zeigen, wie Identität geschaffen und durch politische und ökonomische Prozesse zerstört wird.
OT: „Calfornia Company Town“
Land: USA
Jahr: 2008
Regie: Lee Ann Schmitt
Drehbuch: Lee Ann Schmitt
Kamera: Lee Ann Schmitt
International Film Festival Rotterdam 2009
DOK Leipzig 2025
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