
Li Mongliang (Dylan Xiong) arbeitet als Lokführer in einer kleinen Industriestadt unweit von Shanghai. Seit dem Verschwinden seines Vaters vor vielen Jahren ist das Verhältnis zu seiner Mutter (Mardy Ma) angespannt – sie fürchtet, auch ihr Sohn könnte sie eines Tages verlassen. In seinem Arbeitsumfeld begegnet man Li mit Misstrauen, und auch er selbst scheint zunehmend den Boden unter den Füßen zu verlieren. Neben den anhaltenden Kopfschmerzen, die ihn plagen, quält ihn die Erinnerung an ein tragisches Ereignis aus seiner Kindheit, für das er sich bis heute verantwortlich macht.
Als Li nach einem Treffen mit alten Klassenkameraden seine Jugendliebe Song Qian (Eva Zhou) wiedertrifft, kehren die Schatten der Vergangenheit zurück. Song ist in die Heimatstadt zurückgekehrt, um ihre kranke Mutter zu pflegen, und zwischen den beiden entsteht erneut eine leise Vertrautheit. Doch die Begegnung weckt auch verdrängte Erinnerungen: Eine Geschichte, die Li als Kind schrieb, könnte der Schlüssel zu der Tragödie von damals – und zu seiner eigenen inneren Zerrissenheit – sein.
Schwere Nachbeben
Als Regisseur Hu Zhaoxiang – auch bekannt unter dem Namen Charles Hu – 2019 ein Erdbeben miterlebte, wurde dieses Ereignis zur Inspiration für seinen Debütfilm As the River Goes By, der aktuell auf dem Chinesischen Filmfest München zu sehen ist. In seinem Statement zum Film erwähnt er, dass damals Experten davon ausgingen, es handle sich um das Nachbeben eines viel schwereren Erdbebens von 1976. Die Idee, dass ein vergangenes Ereignis derlei Einfluss auf die Gegenwart haben kann, faszinierte Hu sehr, und sie wurde zum zentralen Leitmotiv der Geschichte um einen jungen Mann, dessen Leben in der Gegenwart von einer Tragödie aus seiner Kindheit und der damit verbundenen Schuld gezeichnet ist. Neben der persönlichen Ebene ist As the River Goes By eine kritische Sicht auf die Fortschrittsversprechen der Politik und die menschlichen Tragödien, die diese Illusion nach sich zieht – ein Motiv, das schon in Produktionen wie Zhou Lidongs The Fall oder Gao Pengs A Long Shot auffiel.
Das Erdbeben wird in As the River Goes By von einem Ereignis zu einer Metapher für das Dilemma der Hauptfigur. Generell nutzt Hu eine Vielzahl unterschiedlicher Bilder und Metaphern, um zu verdeutlichen, was in Li vorgeht, wie seine Beziehung zu den anderen Charakteren ist und was vielleicht verschwiegen wird. Als auf einmal die Erde bebt, blickt Li zur Wand neben seinem Bett und bemerkt einen tiefen Riss, der sich über die ganze Wand zu erstrecken scheint. Immer wieder kehrt die Kamera zu diesem Motiv zurück – beispielsweise nach einer Meinungsverschiedenheit zwischen Li und seiner Mutter.
Es sind nicht nur Risse im Mauerwerk, sondern auch in der Routine Lis, der tagein, tagaus seine Arbeit verrichtet, aber nie wirklich von der Stelle kommt. Mit den Zügen, die er bedient, bleibt er irgendwo stehen und kommt nie wirklich vom Fleck – eine Ironie, die Qian ihm gegenüber erwähnt. Es gibt keinen Fortschritt in Lis Leben und auch nicht für die anderen Figuren, denn es ist vielmehr eine Welt im Stillstand, die Hu in As the River Goes By darstellt. Doch Schweigen und Routine haben Spuren hinterlassen, und wir sehen die ersten Vorboten einer Wahrheit, die sich unermüdlich ihren Weg an die Oberfläche bahnt und nicht mehr unterdrückt werden kann.
Versteckspiele
Ein weiteres Motiv in As the River Goes By ist der schon im Titel erwähnte Fluss in der Nähe der Stadt. In der Rückblende erscheint er wie ein heller, hoffnungsvoller Ort, der Zuversicht ausstrahlt, doch als der erwachsene Li ihn wiedersieht, ist der Blick getrübt, grau und pessimistisch. Ein scheinbar unschuldiges Versteckspiel von Kindern wird zu einem entscheidenden Moment, der die Veränderung der Perspektive verdeutlicht. Für Dylan Xiongs Figur ist diese Perspektive sinnbildlich für seine Schuld und seinen Drang, die Vergangenheit zu unterdrücken. Seine schauspielerische Leistung ist vor allem deswegen beachtlich, weil Li ein kryptischer Charakter ist, der sich in Metaphern wiederfindet, um die schmerzliche Wahrheit zu umgehen. Besonders stark sind die Szenen mit der von Mardy Ma gespielten Mutter, in denen deutlich wird, wie das geheimnisvolle Verschwinden des Vaters Wunden hinterlassen hat, die einfach nicht heilen wollen und die beide – bewusst oder unbewusst – immer wieder aufreißen, wenn sie zusammen sind.
Thematisch und visuell ist As the River Goes By ein beachtliches Debüt, jedoch gibt es auch ein paar Kritikpunkte. Vor allem der Erzählfluss ist sehr träge geraten – was nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass Hu Figuren in einem emotionalen wie existenziellen Stillstand zeigt. Dennoch ist die Mischung aus Rückblenden und Begegnungen mit alten Freunden streckenweise sehr zäh geraten, sodass ein konsequenterer Schnitt durchaus wünschenswert gewesen wäre, vor allem, da so manche Begegnung Lis zwar nett, aber für die Handlung an sich wenig relevant ist.
OT: „Shui Dong You“
Land: China
Jahr: 2024
Regie: Charles Hu
Drehbuch: Charles Hu
Kamera: Xu Hark
Besetzung: Dylan Xiong, Eva Zhao, Haosen Zheng, Mason Zhang, Mardy Ma
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