
Einen Traumjob hat die Juristin Orsolya (Eszter Tompa) nicht. Aber er bringt ordentlich Geld. Die Ehefrau, Mutter und Oma, die früher einmal als Professorin Studenten unterrichtete, muss sich aktuell als Gerichtsvollzieherin durchschlagen. Dabei versucht sie, ihr gutes Herz zu retten und so milde und nachsichtig wie möglich vorzugehen. Doch eines Tages passiert die lange befürchtete Katastrophe. Der 62-jährige Arbeitslose und Flaschensammler Ion (Gabriel Spahiu), dessen ärmliches Zuhause in einem Heizungskeller Orsolya zwangsräumen muss, tötet sich aus Verzweiflung selbst. Die Frau fühlt sich schuldig, auch wenn ihr jedermann bestätigt, dass sie es nicht ist, selbst nach moralischen Maßstäben nicht. Doch das Unbehagen bleibt, wie auch das Unbehagen des rumänischen Regisseurs Radu Jude an seinem Land, an der EU und am Kapitalismus im Allgemeinen. In einer Mischung aus Satire und Tragik lässt der Filmemacher seiner Wut freien Lauf, freilich nicht in einem lauthals propagandistischen Film, sondern verpackt in kuriose Kameraeinstellungen, hilflose Dialoge und dokumentarische Betrachtungen.
Kuriose Gegensätze
Auch ein Satiriker hätte die Szene nicht humorvoller erfinden können. Ion, dem wir in den ersten Filmminuten bei seinen Streifzügen folgen, läuft durch einen herbstlich durchsonnten Wald. Man könnte meinen, er sammle Pilze. Aber es sind Plastikflaschen und Blechdosen, die er – meist fluchend – vom Wegesrand aufhebt. Irgendwann ein Schnitt: Plötzlich schwenkt im vorderen linken Bildrand ein Dinosaurier sein furchterregendes Maul. Ion zuckt nicht mal mit den Schultern. Es sind bloß die Bewegungsmelder, die die Tierattrappen in Bewegung gesetzt haben, hier oben im Dino-Park, einer Touristenattraktion im transsilvanischen Cluj, der zweitgrößten Stadt Rumäniens, die auf Deutsch einmal Klausenburg (in Siebenbürgen) hieß. Seit dem EU-Beitritt des Landes floriert die geschichtsträchtige Großstadt, nicht nur als Industriestandort, sondern auch im Fremdenverkehr.
Die brüllenden Dinos im stillen Wald lassen sich als Symbol für die vielen Gegensätze im postkommunistischen Rumänien (und der ganzen Welt) lesen: Armut und Reichtum, Hyperkapitalismus und Bauruinen, Tradition und Moderne. Dem schließen sich die filmische Struktur und Dramaturgie an. Humor knallt manchmal gnadenlos auf Tragik, persönliche Schuldgefühle reiben sich an politischer Verantwortung, Gewissensbisse an philosophischen oder religiösen Erlösungsfantasien. Dazwischen finden eine Menge aktueller Themen Platz: Rassismus (Orsolya gehört der ungarischen Minderheit an), die Politik von Viktor Orbán, der Ukraine- und der Gaza-Krieg. Auch Zitate von anderen Filmen fließen mühelos in die lose gewobene Erzählstruktur, unter anderem der Hinweis auf Wim Wenders‘ Perfect Days (2023).
Die Handlung ist schnell umrissen. Nach dem Tod von Ion nimmt der Film die Perspektive von Orsolya, der Gerichtsvollzieherin, ein. Er begleitet sie, wie sie den geplanten Urlaub absagt und den Ehemann allein mit Tochter und Enkelkindern nach Griechenland schickt. Geplagt von widerkehrenden Flashbacks mit Bildern des Toten, sucht Orsolya das vertrauliche Zwiegespräch, etwa mit einer Freundin, der Mutter, einem zufällig auftauchenden Ex-Studenten und einem Priester. So verschieden deren Reaktionen auch ausfallen, eines ist allen gemeinsam: Sie setzen sich nicht wirklich mit dem Drama auseinander, das die Gerichtsvollzieherin gerade erlebt hat und das sich vor unser aller Augen jeden Tag abspielt. In jeder Großstadt der EU trifft man Obdachlose oder bettelnde Menschen, die Schere zwischen rücksichtslosem Konsumismus und elenden Gestalten in unseren Einkaufsmeilen wird immer größer. Einzig Orsolya fällt aus den allgegenwärtigen Verdrängungsmechanismen heraus. Ihre Figur, intensiv verkörpert von Eszter Tompa, ist als einzige bereit, über Konsequenzen für ihr persönliches Leben nachzudenken.
Der Neorealismus lässt grüßen
Regisseur Radu Jude (Bad Luck Banging or Loony Porn, Goldener Bär 2021, The Happiest Girl in the World, 2009) nennt als wichtige Inspiration für seine neue Arbeit das neorealistische Drama Europa 51 von Roberto Rossellini (1952). Das mag man auf die vergleichbare Schuldproblematik der weiblichen Hauptfigur (bei Rossellini ist es Ingrid Bergman) beziehen. Aber es hat sicher auch etwas mit der Doppelung von individuellem Drama und Gesellschaftsdiagnose zu tun. Hinzu kommt der dokumentarische Charakter beider Spielfilme. Radu Jude übersetzt den Neorealismus quasi in die heutige Zeit, indem er das reine Sozialdrama mit Humor und Satire unterläuft und so dem Publikum eine gewisse Entlastung von einer allzu düsteren Stimmung verschafft. Aber eine Distanz im Sinne von „geht mich nichts an“ ist damit nicht gemeint. Lachen oder Schmunzeln dienen nicht als Fluchtwege.
Nichtsdestotrotz spürt man die Lust am locker Hingeworfenen in dieser oft improvisiert wirkenden Tragikomödie. Gedreht wurde in elf Tagen mit einer Handy-Kamera, oft in statischen Einstellungen an öffentlichen Plätzen. Das ergibt einen nicht nur realitätsnahen, sondern auch leicht experimentellen Look, der sich vor allem in den Stadtansichten zeigt, die als dokumentarischer Strang zwischen die Handlung geschaltet werden. Altehrwürdige Gebäude treffen auf Plattenbauten und den Protz von Luxushotels. Einmal heißt es, in Rumänien würden Immobilienhaie so rasant bauen wie in China. Ohne dass sie ausgesprochen würde, steht bei dem Blick auf die tristen, immer gleichen, aber brandneuen Wohnblocks die Frage im Raum: Warum gibt es dort nicht auch ein Plätzchen für all die Obdachlosen?
OT: „Kontinental ’25“
Land: Rumänien
Jahr: 2025
Regie: Radu Jude
Drehbuch: Radu Jude
Musik: Matei Teodorescu
Kamera: Marius Panduru
Besetzung: Eszter Tompa, Gabriel Spahiu, Adonis Tanta, Mardara Oana, Serban Pavlu
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