Basierend auf einem wahren Fall erzählt Karla (Kinostart: 2. Oktober 2025) von der 12-jährigen Karla (Elise Krieps), die in den 1960ern zur Polizei geht und dort ihren eigenen Vater wegen Missbrauch anzeigen will. Das ist aus verschiedenen Gründen sehr schwierig. Zu ihrem Glück gerät sie aber an den verständnisvollen Richter Lamy (Rainer Bock), der sich ihrer annimmt und dabei hilft, ihre Geschichte zu teilen. Wir haben bei der Premiere auf dem Filmfest München 2025 Regisseurin Christina Tournatzés getroffen und mit ihr über das preisgekrönte Drama gesprochen. Im Interview spricht sie über die Entstehungsgeschichte des Films, das Kerndilemma von Betroffenen und wie man ihnen helfen kann.
Könntest du uns etwas zur Entstehungsgeschichte von Karla verraten? Wie bist du zu dem Film gekommen?
Die Autorin Yvonne Görlach hatte sich bei mir gemeldet und mich gefragt, ob ich den Stoff als meinen Debütfilm inszenieren möchte, weil mich mein Drehbuch Prof Egbert van Wyngaarden ihr empfohlen hatte. Nachdem ich das Drehbuch gelesen hatte, habe ich sofort ja gesagt, weil das für mich eine so bemerkenswerte Geschichte ist. Die Figur hat so eine Fragilität und Stärke zugleich. Das hat sehr mit mir resoniert, weil ich mich für Menschenrechte und vor allem Frauenrechte interessiere. Oft bleibt man bei Geschichten, wo es um sexuelle Gewalt an Kindern geht, ohne Hoffnung zurück. Karla ist eine Kämpferin, eine Heldin, und so wollte ich sie auch inszenieren. Das kostet sehr viel Mut, den Schritt vor Gericht zu gehen, weil man oft gegen die eigene Familie aussagen musst. Und wir wollten die Geschichte aus ihrer Perspektive erzählen, mit einer Kamera, die immer auf ihrer Augenhöhe ist und die Würde der Hauptfigur niemals verrät. Ihr Fall gibt einem Hoffnung.
Dein Film basiert auf einem tatsächlichen Fall. Wie viel davon ist wahr, wie viel ist von euch gekommen?
Da ist sehr viel Wahres drin. Die Geschichte an sich stimmt. Wir haben sie aus erster Hand von der originalen „Karla“ erfahren und hatten auch Akteneinsicht in den echten Fall. Klar haben wir die Chronologie ein bisschen zusammengezurrt. Auch das mit der Stimmgabel, mit der Karla einen Ton anschlagen kann, anstatt ein Wort aussprechen zu müssen, ist unsere freie Erfindung. Das haben wir als filmisches Symbol hinzugefügt.
Der Fall fand in den 1960ern statt. Warum ist er für ein heutiges Publikum noch relevant?
Wir sprechen von einem großen gesellschaftlichen Problem, das noch immer aktuell ist. Statistisch gesehen gibt es pro Schulklasse ein bis zwei Kinder, die von sexueller Gewalt betroffen sind. Die institutionelle Arbeit ist seit den 1960ern zum Glück besser geworden. Wir haben heute psychologische Unterstützung von Kindern vor Gericht. Auch müssen Kinder in den meisten Fällen nicht mehr in den Gerichtssaal, sondern ihre Aussage wird voraufgezeichnet und dann als Video in die Hauptverhandlung mitgenommen. Aber das Kerndilemma, dass Karla gegen ihre eigene Familie aussagen muss und damit ihre eigene Familie sprengt, und dass sie etwas erzählen muss, für das ihr die Worte fehlen. das bleibt.
Ist es denn auch gesellschaftlich einfacher geworden, über das Thema zu sprechen? Das wurde schließlich lange tabuisiert.
Ja, schon. Es hat sich vieles verändert, auch durch #MeToo. Aber für die Betroffenen ist da noch immer die Scham. Deswegen finde ich den Fall um Gisèle Pelicot so bemerkenswert und den Satz, den wir so oft gehört haben: „Die Scham muss die Seiten wechseln.“ Es ist auch der erste Fall, bei dem alle Pelicot kennen, aber niemand den Namen des Täters weiß. Normalerweise ist das andersrum.
Habt ihr euch für den Film denn mit Betroffenen unterhalten?
Nur mit der tatsächlichen Karla. Die Autorin ist eine nahestehende Person und wusste daher von dem Fall. Ansonsten hätten wir nie davon erfahren.
Hat der Autorin geholfen, dass sie so nah dran war? Es hätte ja auch sein können, dass es schon wieder zu nah für sie war.
Es hat ihr auf der einen Seite geholfen, weil sie dadurch Einblick in die Akten bekam und sehr genau recherchieren konnte. Auf der anderen Seite musste sie aber auch Abstand gewinnen und brauchte wieder eine Pause, um danach die Geschichte schreiben zu können. Die Distanz war emotional wichtig.
Du hast schon gesagt, dass Karla dein Debütfilm ist. Hast du je darüber nachgedacht, ob ein so schwerer Stoff gut oder schlecht ist für einen Debütfilm?
Nein, darüber habe ich nicht nachgedacht. Das war mir auch egal, weil ich das Thema und die Geschichte so stark fand. Ich bin auch deshalb Regisseurin geworden, um Dinge und Themen anzusprechen, die wehtun und die wichtig sind.
Wie kam es überhaupt dazu, dass du Regisseurin geworden bist?
Ich habe nicht die Geschichte, wie andere sie haben, dass ich als Kind einen Film gesehen habe, der zur Initialzündung wurde. So etwas gibt es bei mir nicht. Als Kind und Jugendliche habe ich diese Möglichkeit überhaupt nicht gesehen, dass Filmemachen ein Beruf sein könnte für mich. Ich wusste, dass ich mich irgendwie ausdrücken wollte und dass da etwas in mir ist. Dass es am Ende der Film wurde, war aber Zufall. Am Anfang wollte ich eigentlich nur Drehbücher schreiben. Beim Studium ist mir jedoch bewusst geworden, dass es die Arbeit mit dem Ensemble und dem Team ist, die mich interessiert. Das gemeinsame Schaffen von Kunst im Moment, wenn die verschiedensten Zahnräder ineinandergreifen.
Kommen wir zum Thema zurück. Eine Besonderheit bei Kindesmissbrauch ist, dass die Betroffenen nicht unbedingt verstehen, dass da ein Verbrechen verübt wird. Wenn Erwachsene vergewaltigt werden, ist ihnen das meistens bewusst. Wie schafft man es, Kinder zu bestärken, wenn ihnen ein solches Bewusstsein fehlt?
Das ist sehr sehr schwierig. Es geht letztendlich immer um Grenzen, die überschritten werden. Das Fiese ist, dass es oft ganz langsam geschieht und die Kinder anfangs nicht wissen, dass da etwas nicht in Ordnung ist, weil es für sie Normalität ist. Irgendwann wird dann aber doch eine Grenze überschritten, bei der sie sich bewusstwerden, dass da etwas nicht stimmt, weil es sich falsch oder eklig anfühlt. Weil sie eine Schuld oder Scham spüren. Deses Gefühl kann so stark sein, dass man alles infrage stellt. Sich selbst, seine Identität, sein Leben. Und das ist eben bei Karla der Fall. Sie spürt, dass da etwas nicht in Ordnung ist, dass das, was mit ihr passiert unrecht ist. Mit diesem Glauben zieht sie los. Aber sie muss erst einen Weg finden, das auszudrücken, weil ihr die Sprache dafür fehlt.
Damit einher geht ein Problem, das es nicht nur bei Kindern gibt: Nur weil man etwas sagt, heißt es nicht, dass einem auch geglaubt wird. Lässt sich das Dilemma, einen Missbrauch beweisen zu müssen, obwohl man ihn oft nicht beweisen kann, irgendwie auflösen?
Da steht dann Aussage gegen Aussage. Der Richter muss letztlich einer Seite glauben. Und wir haben in Deutschland die Nullhypothese, das heißt für den Täter gilt die Unschuldsvermutung und es muss bewiesen werden, dass er schuldig ist. Karla hatte das Glück, bei einem Richter gelandet zu sein, der wirklich recherchiert hat und eine Polizeiakte gefunden hat mit einer früheren Aussage der Mutter. Als sie dann intensiv befragt wurde, hat sie gestanden – und später auch der Vater. Das wäre ohne die gute Richterarbeit nicht möglich gewesen. Anders hätte Karla den Fall nicht gewinnen können.
Sollte man Menschen, die von einem solchen Missbrauch berichten, immer glauben?
Als Privatperson, ja auf jeden Fall! Juristisch ist die Sache sicher schwieriger. Es geht mir auch nicht darum, die deutsche Justiz zu kritisieren. Ich finde, dass wir ein sehr gutes juristisches System haben. Mir geht es darum, ein gesellschaftliches Problem aufzuzeigen und die Frage zu stellen: Wie können wir Betroffene so empowern, dass sie überhaupt den Schritt wagen und vor Gericht gehen? Die meisten Kinder wagen diesen Schritt erst gar nicht. Wie es danach weitergeht, ist sehr individuell.
Kommen wir noch kurz zum Casting. Bei dem Film ist es natürlich besonders wichtig, dass die Hauptfigur passend besetzt wird. Wonach hast du gesucht?
Mir war es wichtig, ein Kind zu finden, das authentisch ist und das Dilemma von Karla versteht. Wie es aussieht, war mir völlig egal. Ich habe auch keinen bestimmten Stil gesucht. Unsere Produzentin Melanie Blocksdorf kam auf die Idee, Elise Krieps zu fragen, weil sie Vicky Krieps von einem Dreh kannte und wusste, dass sie eine Tochter in dem Alter hatte. Für uns war das ein absoluter Glücksfall und im Nachhinein sehe ich es als Schicksal an.
Und wie sah die Zusammenarbeit mit Elise aus? Wie habt ihr sie auf die Rolle vorbereitet? Das Thema ist schließlich sehr hart und eines, mit dem die meisten glücklicherweise dann doch keine eigenen Erfahrungen machen.
Wir haben die Entscheidung getroffen, dass sie das Drehbuch erst einmal nicht zum Lesen bekam, um sie nicht mit dieser Wucht zu überfrachten. Wir haben ihr die Geschichte erzählt, sie wusste also, um welches Thema es geht und was Karla widerfahren ist. Elise hat sich dann Stück für Stück mit und als Karla weiterentwickelt, indem sie sich auf den jeweiligen Drehtag vorbereitet hat. Dafür war die Voraussetzung, dass wir chronologisch drehen. Mir war es wichtig, dass sie sich geschützt fühlt. Natürlich konnte sie mir aber jede Frage stellen, damit sie sich selbst frei entfalten konnte. Nach etwa der Hälfte des Drehs hat sie das Drehbuch doch gelesen, weil sie es wissen wollte. Aber das war dann eben in Ordnung, weil es ihre Entscheidung war. Wir haben sehr auf Augenhöhe miteinander gearbeitet.
Vielen Dank für das Gespräch!
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