Pociagi Trains
© déjà-vu film UG

Trains

Pociagi Trains
„Trains“ // Deutschland-Start: 2. Oktober 2025 (Kino)

Inhalt / Kritik

Züge und Kino sind ein gutes Team. Wenig überraschend eigentlich; schließlich begleitet die Eisenbahn den Film seit der Stunde seiner Geburt (der Einfahrt des Zuges in den Bahnhof von La Ciotat) – und der Film begleitet die Eisenbahn; nutzt sie oft und gerne als Setting oder zumindest als Ausgangspunkt von Erzählungen. Die Gleise ihrer historischen Entwicklung verlaufen gewissermaßen parallel, um eine naheliegende Metapher zu gebrauchen. (Ich verspreche, es mit den Wortspielen nicht zu übertreiben, kann verbale Entgleisungen (!) aber auch nicht komplett ausschließen).

Während herkömmliche Spielfilme in der Regel schlicht die dramaturgischen Vorzüge einer Zugfahrt nutzen, wählt Trains einen experimentelleren und auch kontemplativeren Ansatz. Der Film des polnischen Regisseurs Maciej J. Drygas arbeitet mit found footage, also „gefundenen“ Aufnahmen, die nicht eigens für den Film gedreht wurden. Die Bandbreite des Filmmaterials reicht von frühen von Industriefilmen, die etwa die industrielle Fertigung von Lokomotiven zeigen, über sogenannte Phantom Rides, (hier wurde eine Filmkamera an die Spitze einer Lokomotive montiert, welche die Fahrt als Point-of-View-Shot aufzeichnete), die sich zu Stummfilmzeiten hoher Beliebtheit beim Publikum erfreuten, bis hin zu Passagen, die an Dokumentarfilmklassiker wie Night Mail (1936) erinnern. Angesichts des heterogenen, fragmentarischen Ausgangsmaterials ist es umso erstaunlicher, dass der Film dennoch wie aus einem Guss erscheint.

Sagenhafter Sog

Das liegt maßgeblich am elektronischen, fast schon industriell anmutenden Score und dem fantastischen Sound Design: Treibend und dem rhythmischen Rattern der Räder nachempfunden, gibt der Soundtrack den Takt vor. Die Geräuschkulisse der Alltagsszenen wurde nachsynchronisiert und erweckt so die stummen Aufnahmen zum Leben. Im Zusammenspiel von Bild- und Tonebene sowie der assoziativen Montage entsteht ein faszinierender Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann und der tatsächlich der hypnotisierenden Wirkung einer geschmeidigen Zugfahrt ähnelt. Wenn der Fokus bei dieser Besprechung auf der Ästhetik zu liegen scheint, so liegt das daran, dass der Film über keine Handlung im klassischen Sinne verfügt, die man nacherzählen könnte.

Auch charakterisierte Figuren gibt es nicht, auch wenn hunderte von Personen in den Aufnahmen zu sehen sind – im Zug, am Bahnsteig und in der Fabrik; Arbeiter:innen, Reisende und Soldaten. Es liegt aber in der Natur von found footage, dass wir als Publikum nie erfahren, wer diese Menschen sind bzw. waren. Wir kennen ihre Geschichten nicht und meistens nicht einmal den genauen historischen oder geografischen Kontext. Was wir erhaschen können ist lediglich ein kurzer, aber wahrhaftiger Blick auf einen authentischen Moment in ihrem Leben. Aus der Summe dieser zeitgeschichtlichen Momentaufnahmen ergibt sich eine kollektive Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. So ähnelt der Film selbst einer (Zug-)Reise, bei der sich temporäre Zufallsbekanntschaften ergeben und ebenso schnell wieder lösen.

Die Geschichte des Jahrhunderts

Wenn es obenstehend hieß, der Film habe keine Handlung, heißt das natürlich mitnichten, dass nichts passiere. Es passiert im Film sehr viel. Auch gibt es durchaus eine Erzählung, die anhand der Eisenbahn technologische Innovationen und gesellschaftliche Transformationen im Europa des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert begleitet – eine Epoche, die von massiven Umbrüchen und einer schier unglaublichen Beschleunigung in fast allen Bereichen der Gesellschaft geprägt war. Kaum ausmalen kann mich sich aus heutiger Sicht die Wirkung, die die Geschwindigkeit der Eisenbahn damals auf die Menschen gehabt haben muss; eine Geschwindigkeit, die auch Wahrnehmungsstrukturen nachhaltig verändern sollte.

Nicht nur deshalb taugt die Eisenbahn so hervorragend als Metapher und Seismograph für diese Entwicklungen. Zu Zeiten der Industriellen Revolution galt die Eisenbahn als Inbegriff des Fortschritts und des Übergangs in die Moderne. Sie sorgte einerseits für bis dato ungeahnte Dimensionen in Sachen Produktivität und Mobilität, revolutionierte aber andererseits auch die Kriegsführung: Weder die Mobilmachung im Zweiten Weltkrieg noch die Deportationen und der darauffolgende industrielle Massenmord während der Shoah wäre ohne die entsprechende Eisenbahn-Infrastruktur in dem Ausmaß möglich gewesen (vgl. Lars von Triers Europa).

Trains thematisiert die Bewegung von Körpern im Raum. Von Flucht und Vertreibung während des Krieges bzw. in der Zeit danach bis zur Wirtschaftswunderzeit mit dem Aufkommen des Massentourismus‘ und der Internationalisierung des Bahnverkehrs à la Trans-Europa-Express. All das erzählt der Film ohne belehrenden voice over-Kommentar. Hier wird nicht erklärt, sondern auf poetische Weise zum assoziativen Nachdenken über Film aufgefordert. Dafür wurde Trains beim International Documentary Film Festival Amsterdam, dem weltweit größten Festival für Dokumentarfilme, als bester Film ausgezeichnet und kommt nun tatsächlich hierzulande in die Kinos – alles andere als eine Selbstverständlichkeit für einen schwarz-weiß Essayfilm ohne Dialoge.

Credits

OT: „Pociągi“
Land: Polen, Litauen
Jahr: 2024
Regie: Maciej J. Drygas
Drehbuch: Maciej J. Drygas
Musik: Pawel Szymanski

Bilder

Trailer

Kaufen / Streamen

Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.




(Anzeige)

Trains
fazit
Der experimentelle Dokumentarfilm „Trains“ nimmt das Publikum sprichwörtlich mit auf eine Reise: Mithilfe unzähliger Archivaufnahmen von Eisenbahnen zeichnet der Film ein essayistisches und assoziatives Portrait von Mensch und Maschine im 20. Jahrhundert, von der Aufbruchstimmung der Industrialisierung bis zu den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg. Wer sich auf die ungewöhnliche Erzählform des Films einlässt, wird es nicht bereuen.
Leserwertung0 Bewertungen
0
8
von 10