Antonia Bill hat am Theater mit namhaften Regisseuren gearbeitet, etwa mit Claus Peymann, Leander Haußmann oder Robert Wilson. Und auch fürs Kino entdeckte sie ein ganz Großer. Nämlich Heimat-Regisseur Edgar Reitz, mit dem sie Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht in der weiblichen Hauptrolle des „Jettchens“ drehte. Nun hat sie wieder mit Reitz einen Film gemacht. In Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes spielt Antonia Bill die preußische Königin Sophie Charlotte von Hannover (1686 bis 1705). Die vielseitig gebildete Adlige wünscht sich ein Porträtgemälde von ihrem ehemaligen Lehrer, dem Philosophen und Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz. Wenigstens auf Leinwand soll der kluge Mann bei ihr sein, damit sie imaginäre Gespräche mit ihm führen kann. Der Film zeigt die Sitzungen für die Entstehung des Bildes und dreht sich um die Lust am gemeinsamen Denken. Er behandelt Fragen nach dem Wesen der Malerei, der Wissenschaft und der Philosophie. Zum Filmstart am 18. September 2025 sprachen wir mit Antonia Bill über Charlottes Einsamkeit, über den Schutzraum des freien gemeinsamen Denkens und über ihre Faszination für die Arbeitsweise von Edgar Reitz.
Im Film gibt es drei historisch verbürgte und drei erfundene Figuren. Ihre Figur ist real. Wie haben Sie sich ihr genähert, vor allem über das Drehbuch oder auch über historische Quellen?
Der erste Schritt war, mich historisch über sie zu informieren. Ich habe viel über sie gelesen und versucht, ihr Verhältnis zu Leibniz auszuloten. Leider wurden die Briefe zwischen den beiden verbrannt, was der eifersüchtige Ehemann Friedrich veranlasst hatte. Aber es gibt den Briefwechsel zwischen Charlotte und ihrer Mutter. Natürlich war ich auch im Schloss Charlottenburg, das sie bauen ließ, und habe dort viel über sie erfahren. Das war alles sehr spannend und neu, denn es gibt bisher keinen Film über sie. Der zweite Schritt war dann, dieses Wissen in die Rollenbeschreibung durch das Drehbuch zu transportieren. Für mich war dabei wichtig, ihre Einsamkeit einfühlsam und eindringlich zu vermitteln, ganz besonders in der Eingangsszene, in der sie den Brief an ihre Mutter vorträgt, in dem sie um das Porträtbild von Leibniz bittet. Man soll hier so viel wie möglich über ihren Seelenzustand erfahren. Sie war eine unglaublich intellektuelle Frau und hat sich im höfischen Zeremoniell überhaupt nicht wohlgefühlt. Sie war mit 16 verheiratetet worden. Das war kein leichtes Leben, sondern sehr einsam.
Was hat Sie am meisten an der historischen Charlotte fasziniert?
Mich fasziniert vor allem ihr Freisinn – dass sie es geschafft hat, zu dem Zeitpunkt, an dem der Film ansetzt, in relativer Selbstständigkeit zu leben. Dass sie sich entfalten und ihre weitgreifenden Interessen leben konnte. Sie konnte den Neigungen ihres Gemahls keinen Geschmack abgewinnen, die Ausübung der Macht reizte sie nicht. Sie machte, was die Umstände verlangten, ohne Eifer und ohne Hass, mit edler Gelassenheit. Aber sie wandte sich mit aller Freiheit, die ihr blieb, ihrem Kreis von Vertrauten zu. Die tiefe Einsamkeit und die Sehnsucht zurück zu dem Ort der Kindheit und der gewissen Unbeschwertheit, der tiefe Gedankenrückzugsort in den endlosen Gesprächen mit Leibniz bleibt natürlich das Gegengewicht zu dem Gefühl des Sich Abfindens mit den Lebensumständen. Leider ist sie viel zu früh gestorben, mit 36 Jahren.
Sie haben die Eingangsszene schon angesprochen, in der Sie in wenigen Minuten Charlottes Schicksal plastisch vor Augen stellen müssen, denn allzu viel Leinwandzeit hat Ihre Figur nicht. Gab es Vorbilder von der Theaterbühne oder andere Inspirationen für diesen Monolog?
Wir hatten viele Vorgespräche. Bei Edgar Reitz ist es immer so, dass man über das Gesamte redet, über alle Figuren und über die Welten und die philosophischen Diskurse, die sich im Film auftun. Für die Eingangsszene kam mir die Vorrecherche zugute. Ich hatte mir ein Bild von ihr zurechtgelegt, in das meine eigenen Interpretationen von ihr einflossen. Die Briefszenen haben wir ganz am Anfang gedreht, am ersten Drehtag. Zunächst hatte ich wahnsinnige Angst davor, weil ich nicht wusste, wie man einen Brief darstellerisch umsetzen könnte. Man lernt an der Schauspielschule, dass man Briefe nicht gestaltet. Ich glaube, wir wussten alle nicht, wie das genau gehen könnte. Dann kam ich in diesen Raum und die Kamera war ganz nah an meinem Gesicht. Jeder Schauspieler weiß, dass man bei einer solchen Großaufnahme eine ganz klare Vision vom Wesen der Figur haben muss. Weil mich die Einsamkeit am meisten interessierte, habe ich dieses Gefühl genommen und versucht, den Text so klar wie möglich zu denken. So konnte ich meine Ängste gut loslassen, letztlich wurde der zweite oder erste Take für den Film genommen. Es war ein wechselseitiges Geben und Nehmen am Set. Das hat mit dem großen Vertrauen zu Edgar Reitz zu tun, mit dem ich schon einmal gearbeitet hatte und mit dem mich seitdem eine lange Freundschaft verbindet.
Charlotte sehnte sich nach einem geistig-kulturellen Leben, nicht nach der Herrscherposition. Trotzdem hat sie als Königin ungeheure Macht. Ich habe mich gefragt, warum sie nicht einfach ihre Macht einsetzen kann, um ihre Träume zu verwirklichen. Und zum Beispiel Leibniz an den Hof zu holen, statt sich mit seinem Bildnis zu begnügen?
Ihre Bedürfnisse hat sie sich in vielerlei Hinsicht tatsächlich erfüllt. An ihrem Hof in Lietzenburg bei Berlin förderte sie viele Menschen, die ihrem Bedürfnis nach geistigem Austausch und auch nach Musik entgegen kamen. Sie hat sich sogar manchmal in politische Angelegenheiten eingemischt. Sie hatte auch eine tolle Hofdame, mit der sie sehr eng war und die in der Mathematik mit ihr mithalten konnte. Trotzdem spürte sie eine große Sehnsucht nach ihrer Familie in Hannover, weil dort ein ganz anderes, gebildeteres Leben geführt wurde und weil Preußen damals noch kulturelles Brachland war. Und sie hatte Sehnsucht nach Leibniz, der wie ein Mentor für sie war und mit dem sie sich innig verbunden fühlte. Man kennt das ja auch von sich selbst. Im Leben hat man manchmal solche Begegnungen, die nicht ersetzbar sind.
Ich wollte gerade nach der speziellen Beziehung zu Leibniz fragen. Gab es da nur die gemeinsame Freude am Denken und an der Mathematik? Oder gab es auch eine Art platonischer Liebe? Im Film sagt sie: „Ich liebe diesen Mann“.
Es gibt den großen Altersunterschied und mir war wichtig, dass es nicht in Richtung einer Erotik geht, wie wir sie kennen. Edgar Reitz hat es in einem Interview einmal die „Erotik am Denkvermögen miteinander“ genannt. Leibniz ist ihr Gedankenfreund. Ich finde den Aspekt ganz spannend, dass gemeinsames Denken erotisch werden kann. Vielleicht besteht darin der Erotikteil der Beziehung. Zugleich ist er ihr Mentor, den sie von klein auf kennt. Dadurch verkörpert er ihren Sehnsuchtsort, nämlich den Ort, an dem sie sich sicher und lebendig fühlt. Ich glaube, in dieser Zeit war es sehr schwer, Räume und Menschen zu finden, mit denen man sich wirklich frei und lebendig fühlen konnte. Wo man die ganzen Schutzmechanismen, die man gelernt hatte, ablegte und in eine Freiheit im Geiste kam. Das ist der Ort, den sie mit ihm hat, wenn sie ihn trifft. Es ist eine große Liebe im Denken.
Edgar Reitz sagt im Presseheft, dass er es sehr reizvoll fand, aus Ihrem Jettchen, einem armen Bauernmädchen, das Sie in Die andere Heimat verkörperten, eine Königin zu machen. Wie haben Sie das Verhältnis zwischen Jettchen und Charlotte empfunden?
Da entsteht so etwas wie eine Klammer um unsere gemeinsame Arbeit. Die andere Heimat war mein erster Film überhaupt und ich war noch völlig unbedarft, auch was die ganze Branche angeht. Ich war damals noch auf der Schauspielschule und wusste gar nicht, wie es beim Film zugeht. Wir hatten 70 Drehtage über vier Monate und ich dachte, so ist Filmemachen und das wird immer so sein. Jetzt habe ich mehr als zehn Jahre Erfahrung. Das Jettchen hatte etwas Unbedarftes an sich, auch wenn die Rolle sehr herausfordernd war. Da steckte viel Traumhaftes und Idealisierendes drin. Die Rolle der Königin ist prägnanter. Sie braucht viel schauspielerisches Durchsetzungsvermögen und Klarheit. Schauspielerisch ist das für mich eine große Spanne. Und eine riesige Ehre. Damals hatte mir Edgar Reitz gesagt, er besetze eine Schauspielerin oder einen Schauspieler immer nur einmal für eine Figur in einem Film. Deshalb ist es umso toller, dass ich noch einmal bei einem anderen Projekt mitmachen durfte. Es war ihm wichtig, dass ich diese Rolle spiele.
Wobei Sie jemanden verkörpern, der mit 36 Jahren schon kurz vor dem Ende seines Lebens steht.
In den Gesprächen mit Edgar war oft Thema, wie man jemanden spielt, der erst nur ein leichtes Halskratzen verspürt, dann aber innerhalb von vier Tagen verstirbt, was tatsächlich eine wahre Geschichte ist. Auf der Kutschfahrt von Berlin nach Hannover fing es an und dann breitete sich die Entzündung immer weiter aus. Ich musste das immer mitdenken beim Spielen, dass Charlotte eigentlich sterbenskrank ist, es aber noch nicht wahrhaben will. Für Edgar war das total wichtig. Deshalb dieses Glühen im Gesicht und der krankheitsbedingte leichte Wahn, wenn sie Leibniz nach der Unsterblichkeit der Seele fragt. Sie weiß eigentlich, dass sie stirbt, lässt es aber noch nicht an sich heran. Mit dieser Tragik umzugehen, war eigentlich meine Hauptvorbereitung. Ich hatte tatsächlich in meiner Zeit am Berliner Ensemble mal eine schwere Lungenentzündung. Da musste ich für vier Monate raus aus dem Job. Insofern wusste ich, wie sich das anfühlt. Aber heute haben wir Antibiotika, und damals ging es sehr schnell. Charlotte hatte noch Großes vor. Sie wollte eine Akademie der Wissenschaften gründen, die dann von ihrem Ehemann Friedrich ins Leben gerufen wurde.
Im Presseheft wird es so formuliert, dass für Sie ein Traum in Erfüllung ging, als Sie erfuhren, nochmal mit Edgar Reitz arbeiten zu dürfen. Was macht die Zusammenarbeit mit ihm so besonders?
Es hat damit zu tun, dass Die andere Heimat mein erster Film war und dass ich von der Arbeit mit ihm so viel aufgesogen habe. Wie zum Beispiel das Team behandelt wurde, wie man gemeinsam an etwas arbeitete. Das ist eine Arbeitsweise, wie ich sie am liebsten immer hätte, wenn das ginge. Sie hat mit seiner Ruhe zu tun, die er in allem ausstrahlt, und mit seinem Vertrauen, einem den eigenen Raum zu lassen, selbst wenn manchmal das System eng gesteckt ist von der Kamera und dem Licht. Hinzu kommen die Welten, die er aufmacht, wenn er über die Figuren redet, und zwar eben nicht nur über die Figuren, sondern immer auch über das große Ganze und über die Vision, wie man es zusammen filmisch lösen will. Man ist bei ihm kein seltsamer, nur ausführender Schauspieler, sondern Teil des Ganzen. Dadurch steht man nie in der Gefahr, in Eitelkeit zu geraten. Sondern man ist ganz klar an einem wahrhaftigen Kern für die Geschichte dran. Ich liebe es, in Gruppen zu arbeiten, also keine Einzeldarstellerin zu sein, sondern sich miteinander zu verzahnen, nicht nur mit den anderen Darstellern, sondern auch mit Ausstattung, Kostümbildung oder Kamera. Ich habe bei Edgar essentiell verstanden, wie man eine solche Teamarbeit erschaffen kann.
Aufgrund seines hohen Alters von 92 Jahren gab es spezielle Bedingungen am Set. Wie haben Sie das empfunden?
Es war eine richtige Entscheidung, alles im Studio zu drehen. Dadurch fallen lange Wege weg. Man hat alles vor Ort und kann sich bei Bedarf auch einmal kurz ausruhen. Mich hat fasziniert, wie beim Drehen immer mehr Leben in sein Gesicht kam und wie klar er in seinen Gedanken ist. Die Kraft des Körpers nimmt natürlich ab, aber selbst die kam von Tag zu Tag wieder mehr zurück. Ich glaube, das Arbeiten ist sein Elixier.
Wenn man Ihrem Wikipedia-Eintrag anschaut, dann sind Sie in letzter Zeit mehr im Fernsehen zu sehen als im Theater oder Kino. Woran liegt das? Gibt es zu wenig gute Angebote?
Es ist schwer, von Arthouse-Filmen zu leben. Außerdem war ich sechs Jahre fest am Berliner Ensemble beschäftigt und habe 16 Theater-Produktionen parallel gespielt, 23 bis 25 Mal im Monat. Da gab es keine Möglichkeit, nebenbei zu drehen. Vor fünf Jahren habe ich angefangen, meine Arbeit mehr auf das Drehen zu verlagern. Das war letztlich gar nicht so geplant, sondern hat mit den Bedingungen am Theater zu tun. Natürlich habe ich da viel gelernt, aber irgendwann war es von der Kraft her zerstörerisch. Dann kam die Pandemie und vieles hat sich aufs Drehen verlagert, weil die Gastengagements am Theater immer weniger wurden. Mir macht das Drehen viel Spaß und ich bin dabei, das wieder mit der Bühne zu kombinieren. Ich bin gerne vielschichtig unterwegs. Im Fernsehen gibt es auch tolle Sachen. So habe ich zum Beispiel letztes Jahr in der Regie von Matti Geschonneck den TV-Zweiteiler Sturm kommt auf gedreht, eine Verfilmung des Romans Unruhe um einen Friedfertigen von Oskar Maria Graf, mit Josef Hader in der Hauptrolle.
In welchen Rollen wird man Sie demnächst sehen?
In dem erwähnten Zweiteiler und in der ARD-Serie „Hundertdreizehn“, die im Oktober herauskommt. Außerdem kann man in der Mediathek noch den Tatort mit dem Titel Siebte Etage sehen, in der Regie von Hüseyin Tabak, über Todesfälle in einem Eroscenter. Da kann ich eine ganz andere Seite von mir zeigen. Ich habe ich meine Fühler auch wieder nach dem Theater ausgestreckt und es würde mich sehr freuen, wenn das klappen würde. Ich stehe seit meinem neunten Lebensjahr auf der Bühne, das ist meine große Leidenschaft und ich vermisse den direkten Draht mit dem Publikum.
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