
Der in Afghanistan geführte Krieg, der unter Federführung der USA mit der Operation Enduring Freedom im Oktober 2001 begann, nahm nach knapp 20 Jahren ein abruptes Ende. Nachdem US-Präsident Joe Biden im April 2021 den vollständigen Abzug der US-Truppen bis zum 11. September 2021 angekündigt hatte und sich die übrigen NATO-Länder, die Soldaten in Afghanistan stationiert hatten, anschlossen, witterten die zwanzig Jahre zuvor gestürzten Taliban Morgenluft. Nach dem Abzug aller internationalen Truppen dauerte es nicht lange, bis die Taliban die Kontrolle über den Binnenstaat im Mittleren Osten zurückerlangten. Die 2004 ausgerufene demokratische Islamische Republik war Geschichte. Unter der Herrschaft der Taliban kehrte das Land zum Islamischen Emirat Afghanistan zurück. Nur wenige Tage, nachdem der letzte US-Soldat abgezogen war, landete der Filmemacher Ibrahim Nash’at in Kabul. Nur mit einer Kamera ausgerüstet und mit einem Dolmetscher an seiner Seite hat er einen hochrangigen Offizier und einen Bodensoldaten das folgende Jahr begleitet. Er habe sehen wollen, „in wessen Händen man das Land ließ“.
Von der Miliz zum Militärregime
Der ungewöhnliche Filmtitel weckt Interesse. Was verbirgt sich hinter dem „Hollywoodgate“? Wird ein Blick hinter die Tore der Traumfabrik geworfen? Werden – in Anlehnung an die sprichwörtlich gewordene Watergate-Affäre – gar dunkle Geheimnisse der Stars enthüllt? Weit gefehlt, denn mit der in Los Angeles angesiedelten US-Filmindustrie hat das Debüt des ägyptischen, in Berlin lebenden Dokumentarfilmers Ibrahim Nash’at nichts zu tun. Der Name „Hollywoodgate“ ist in schwarzer Farbe auf ein weißes Metalltor auf einer US-Militärbasis in Afghanistans Hauptstadt Kabul gesprüht. Nash’at ist mit seiner Kamera vor Ort, als die Taliban das Tor nach ihrer erneuten Machtübernahme im August 2021 zur Seite schieben und den aufgegebenen Stützpunkt inspizieren. Was sich dann abspielt, kommt indessen einem Hollywoodschauspiel gleich.
In der Höhle der Löwen
Bevor Nash’at an seinem ersten eigenen Film als Regisseur arbeitete, war er als Journalist tätig und hat bei diversen Dokumentarfilmen mitgewirkt. Unter anderem war er Co-Editor bei Under the Sky of Damascus (2023) von Regisseur Talal Derki, der nun wiederum an Hollywoodgate als Produzent und Co-Autor beteiligt ist. Nash’ats Kontakte, die er während seiner journalistischen Arbeit über Jahre hinweg geknüpft hat, erlaubten es ihm, eine Abmachung auszuhandeln. Im fertigen Film legt der Regisseur dieses Arrangement mit den Taliban offen: „Ich durfte nur sie filmen und wurde überwacht, aber bekam Zugang zu einem hochrangigen Offizier und einem Bodensoldaten am Luftwaffenstützpunkt Kabul und dokumentierte den Übergang der Taliban von einer aufständischen Miliz zu einem Militärregime“, lässt Nash’at sein Publikum gleich zu Beginn in einem Voiceover wissen.
Als Gegenleistung für diese Abmachung sollte der Regisseur der Weltöffentlichkeit ein Bild der Taliban nach deren Wunschvorstellungen liefern. Doch davon ist der fertige Film weit entfernt. Natürlich sind sich die Taliban der Kamera bewusst und verhalten sich dementsprechend moderat, ihre radikalislamische Ideologie können sie dennoch nicht verbergen. Sie schwingt in den Gesprächen stets mit und nimmt mitunter absurde Züge an, etwa in einem Gleichnis, in dem ein Taliban eine Burka tragende Frau mit einer eingepackten Tafel Schokolade vergleicht, um die vollständige Verschleierung des Körpers zu verteidigen. Dass sein Vergleich hinkt und aufgeklärte Zuhörer nicht überzeugen wird, weil er einen Menschen mit einem Gegenstand gleichsetzt, der (von Männern) „konsumiert“ wird und Frauen somit objektifiziert, scheint dem Taliban entweder nicht bewusst zu sein oder es ist ihm egal.
Von irritierend bis amüsant
Hollywoodgate ist reich an solchen Momenten, die mal irritieren, mal erschrecken, oft aber auf seltsame Weise auch einfach nur amüsieren. Dann stemmen die Taliban in einem voll ausgestatteten Fitnessraum Gewichte und steigen auf ein Laufband, oder sie freuen sich wie kleine Kinder über all das von den Amerikanern zurückgelassene militärische Gerät. So inkompetent und unorganisiert sie mitunter auch wirken mögen, etwa dadurch, dass der Strom in einer großen Lagerhalle selbst ein Jahr nach der Übernahme des Stützpunkts immer noch nicht funktioniert, davon sollte man sich nicht täuschen lassen. Denn was Hollywoodgate in erster Linie vor Augen führt, ist, wie unverantwortlich es vom US-Militär war, Material im Wert von mehr als sieben Milliarden Dollar zurückzulassen und wie gefährlich es in den Händen der Taliban werden könnte.
Ein überraschender Höhepunkt, auf den die Dramaturgie dieses Dokumentarfilms gekonnt zusteuert, zeigt dies beängstigend auf. Der rein beobachtende Modus, für den sich Ibrahim Nash’at in seinem ersten abendfüllenden Dokumentarfilm entschieden hat, bleibt aber nicht ohne Schwächen. Etwas mehr Einordnung des Gezeigten wäre ratsam gewesen. So bleibt Hollywoodgate ein wichtiges Zeitdokument, das zwar vieles entlarvt, aber eben auch viele Fragen offenlässt.
OT: „Hollywoodgate“
Land: USA, Deutschland
Jahr: 2023
Regie: Ibrahim Nash’at
Drehbuch: Ibrahim Nash’at, Talal Derki, Shane Boris
Musik: Volker Bertelmann
Kamera: Nash’at
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