
Haifa, die drittgrößte Stadt Israels: Die arabische Minderheit lebt hier weitgehend gleichberechtigt mit der jüdischen Mehrheit zusammen. Trotzdem gibt es eine Menge kultureller Tabus. Zum Beispiel für den palästinensischen Geschäftsmann Rami (Toufic Danial), dessen jüdische Freundin, die Flugbegleiterin Shirley (Shani Dahari), ein Kind von ihm erwartet. Das darf Ramis Familie und vor allem seine Mutter Hanan (Wafaa Aoun) genauso wenig wissen, wie es Shirley ihrer jüdischen Mutter beichten könnte, zu der sie den Kontakt abgebrochen hat. Auch Ramis Schwester Fifi (Manar Shehab), die in Jerusalem studiert und jüdische Feste besucht, steht unter dem Druck patriarchalischer Regeln und der Fuchtel ihrer Mutter, die sie mit dem palästinensischen Arzt Walid (Raed Burbara) verkuppeln will. Bei den Juden sind die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern ebenso von gesellschaftlichen Erwartungen beschädigt, wie das Verhältnis von Shirleys älterer Schwester Miri zu deren 17-jährigen Tochter Ori (Neomi Memorsky) zeigt, die aus Angst vor dem bevorstehenden Militärdienst in Depressionen verfällt.
Komplexe Erzählstruktur
Rami, der möglicherweise Vater wird, ist ratlos. Mit seiner Freundin Shirley kann er nicht mehr reden, seit sie sich über die verabredete Abtreibung gestritten haben und Shirley das Kind nun doch behalten will. Die Flugbegleiterin beschuldigt ihren Freund, sie zu bedrohen, obwohl der die entsprechende SMS, die als Beweis gilt, überhaupt nicht geschrieben hat. Mehr noch: Selbst eine gemeinsame Bekannte bricht den Kontakt ab und droht mit Polizei. Schließlich wird Rami auf offener Straße überfallen und verletzt. Was ist da los? Wer verschwört sich gegen den jungen Mann? Wie Rami geht es auch uns Zuschauern. Was wirklich passiert ist, erfahren wir aufgrund der verwickelten Dramaturgie des Films erst später. Regisseur Scandar Copti erzählt seine Geschichte um vier Hauptfiguren und ihre Familien, die teilweise miteinander verwandt sind, in vier Episoden. Die schneidet er zwar hintereinander, folgt dabei aber keiner Chronologie. Sondern zeigt bisweilen dasselbe Ereignis aus einer anderen Perspektive. Das erfordert vom Publikum Geduld und Frustrationstoleranz.
Nachvollziehbar ist die Entscheidung für die komplexe Erzählstruktur dennoch, zumindest im Nachhinein, beim Nachdenken über das Gesehene. Denn es geht dem Film nicht in erster Linie um das Aufzeigen von rassistischen Vorurteilen auf beiden Seiten, nicht primär ums Belehren über die Irrwege des Militarismus oder die Unterdrückung der Frauen. Das alles spielt eine Rolle, weil es die Menschen prägt, mit deren Leben uns der Film bekannt macht. Aber im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen zuallererst die Frauen (und wenigen Männer), deren jeweilige Individualität und deren Schicksal sich überschneiden, sich widersprechen oder in dieselbe Richtung weisen. Indem der Film vier Mal die Perspektive einer anderen Figur einnimmt, macht er uns mit deren Gefühlen und kulturellen Prägungen vertraut, sodass wir deren Entscheidungen auch dann nachvollziehen können, wenn wir sie missbilligen. Denn das ist das Anliegen von Scandar Copti (Ajami, 2009, zusammen mit dem Israeli Yaron Shani): zu verstehen, wie man vorgegebene Denkmuster verinnerlicht und nach ihnen handelt, obwohl sie einem schaden.
Stilistisch zeigt sich der Fokus auf das Individuelle in einer auffälligen Zahl von Großaufnahmen. Sie rücken das Isoliert sein der drei Frauen und des einen Mannes, aus deren Perspektiven erzählt wird, in den Fokus. Jede und jeder versucht, ein Leben nach eigenem Gusto zu führen, muss dafür aber den anderen, vor allem der Familie, etwas verschweigen. Diese Geheimnisse machen einsam, nur für uns Zuschauer scheinen sie in der Seelenerkundung der Kamera durch. Denn die Konflikte zwischen individuellen Wünschen und sozialem Druck sind universell, auch wenn der Film sie sehr konkret in der Wirklichkeit verortet. Und zwar nicht nur im gängigen Stil einer dokumentarischen Ästhetik, sondern vor allem dank der besonderen filmischen Praxis von Scandar Copti, über die er auch in Workshops für angehende Filmemacher Auskunft gibt.
Ausschließlich Laiendarsteller
Der Regisseur arbeitet grundsätzlich nur mit Laiendarstellern. Es geht ihm um „die emotionale Verkörperung einer Figur durch eine echte Person, deren Lebenserfahrung der Rolle möglichst nahekommt“, wie er in einem Interview berichtet. Der Arzt im Film etwa wird von einem realen Arzt gespielt. Alle Darsteller bringen ihre Biografie mit ein. Sie erarbeiten die Geschichte gemeinsam mit dem Regisseur durch Rollenspiele, Diskussionen und Improvisationen an realen Drehorten. Das erklärt nicht nur die Lebensechtheit des Films, sondern auch ein paar fehlerhaft erscheinende Details, wie zum Beispiel Erzählfäden, die lediglich angerissen werden und dann ins Leere laufen.
Vermutlich müsste der realitätssatte Film anders aussehen, wenn er erst nach dem 7. Oktober 2022 gedreht worden wäre. Aber die Arbeit am Drehbuch begann schon 2018, die letzte Klappe fiel im Jahr 2022 noch vor dem fürchterlichen Massaker der Hamas. Gerade weil die Utopie eines friedlichen Zusammenlebens zwischen Juden und Arabern aktuell so weit in die Ferne gerückt ist, leuchtet sie auf der Leinwand umso schöner. Denn trotz der Konflikte und Heimlichtuereien, in der sämtliche Figuren stecken, lebt die junge Generation der Palästinenser und Israelis vorbildhaft mit der jeweils anderen Volksgruppe zusammen. Es sind lediglich die Älteren, die einem unbefangenen Miteinander im Weg stehen. Das ist doch mal ein Statement in diesen trüben Zeiten.
OT: „Yin’Ād Aliku“
Land: Palästina, Deutschland, Frankreich, Italien, Katar
Jahr: 2024
Regie: Scandar Copti
Drehbuch: Scandar Copti
Musik: Pascal Lemercier
Kamera: Tim Kuhn
Besetzung: Manar Shehab, Toufic Danial, Shani Dahari, Meirav Memoresky, Imad Hourani, Wafaa Aoun, Sophie Awaada, Raed Burbara
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