
Sexuelle Gewalt an Kindern ist ein Verbrechen, das nicht oft genug thematisiert werden kann. Das Leid, das betroffenen Kindern widerfährt – die teils unaussprechlichen Taten, denen sie ausgesetzt sind – ist kaum zu ermessen und begleitet die Opfer in den meisten Fällen ein Leben lang. Regisseurin Liz Wieskerstrauch widmet sich in ihrem Dokumentarfilm Blinder Fleck diesem hochsensiblen Thema und gibt den Betroffenen eine Stimme. Ihr Fokus liegt dabei nicht auf sexualisierter Gewalt im Allgemeinen, sondern auf sogenannter ritueller Gewalt – einem besonders perfiden Auswuchs des Missbrauchs, bei dem Kinder systematisch im Kontext pseudoreligiöser oder ideologisch motivierter Rituale missbraucht werden.
Die Folgen ritueller Gewalt
Eine zentrale These des Films ist, dass betroffene Kinder als Folge der extremen Traumatisierung eine dissoziative Identitätsstörung (DIS) entwickeln können. Diese psychische Schutzreaktion, die mit der Ausbildung multipler Persönlichkeiten einhergeht, soll es den Opfern ermöglichen, das erlebte Leid zumindest in Teilen auszuhalten. Blinder Fleck lässt einige dieser Opfer selbst zu Wort kommen. Ihre Berichte sind erschütternd, teils kaum auszuhalten – und gerade darin liegt eine der größten Stärken des Films. Denn trotz aller Schwere ist es essenziell, diesen Menschen Gehör zu verschaffen, ihnen eine Plattform zu bieten, auf der sie ihr Leid artikulieren können.
Ergänzt werden die Aussagen der Betroffenen durch die Einschätzungen verschiedener Expertinnen und Experten. Die Sozialpädagogin und psychotherapeutische Heilpraktikerin Yansa Schnitzler sowie der medizinische Psychotherapeut Dr. Harald Schickedanz erklären, wie sich schwere Traumata entwickeln und welche psychischen Folgen sich daraus ergeben. Darüber hinaus schildern die Anwälte Rudolf von Bracken und Ellen Engel ihre Erfahrungen aus der juristischen Aufarbeitung solcher Fälle. Auch wenn diese Einblicke aufschlussreich sind, konzentrieren sie sich in weiten Teilen ebenfalls auf den Aspekt der rituellen Gewalt. Dadurch entsteht der Eindruck, es gäbe weitreichende, organisierte Strukturen, die hinter solchen Missbrauchstaten stehen.
Fragwürdiges Narrativ
Und genau hier liegt die größte Schwäche des Films. Zwar wird immer wieder behauptet, dass es organisierte Strukturen rituellen Kindesmissbrauchs gebe, doch weder der Film liefert hierfür belastbare Belege, noch konnten solche Strukturen bisher von Ermittlungsbehörden aufgedeckt werden. Natürlich lässt sich dies – wie es Verschwörungstheoretiker tun – mit einer angeblichen staatlichen Vertuschung erklären. Der Film verweist zudem auf die Schwierigkeit, dass Aussagen von Menschen mit dissoziativen Identitätsstörungen oft nicht gerichtlich verwertbar sind. Dennoch bleibt der Umstand bestehen, dass trotz intensiver Ermittlungen keine Beweise für organisierte Netzwerke ritueller Gewalt gefunden wurden, wie auch der renommierte Profiler Axel Petermann im Film festhält.
So trifft der Kinderarzt Dr. Andreas Krüger mit seiner Aussage in den ersten Minuten des Films vermutlich den Kern: „Ritualisiert ist sexuelle Gewalt eigentlich immer ein Stück, wenn sie regelmäßig passiert.“ Ob es die von Blinder Fleck suggerierten Strukturen tatsächlich gibt, bleibt offen. Problematisch ist jedoch, dass der Film durch seine einseitige Fokussierung auf diese Form des Missbrauchs den Blick vom eigentlichen Thema – sexualisierte Gewalt an Kindern – ablenkt. Damit verschenkt er die Chance, das Leid der Opfer in den Mittelpunkt zu stellen. Stattdessen wird es in einem fragwürdigen Narrativ eingebettet, das in Teilen mehr an Verschwörungsmythen erinnert als an fundierte Aufarbeitung. So droht das zentrale Anliegen des Films – den Betroffenen eine Stimme zu geben – aus dem Fokus zu geraten.
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