Radical – Eine Klasse für sich
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Radical – Eine Klasse für sich

„Radical – Eine Klasse für sich“ // Deutschland-Start: 21. März 2024 (Kino)

Inhalt / Kritik

Matamoros im Jahr 2011: Die mexikanische Großstadt an der Grenze zur USA ist fest in der Hand von Drogenkartellen. Hier gehen Paloma (Jennifer Trejo), Lupe (Mía Fernanda Solis) und Nico (Danilo Guardiola) in die José Urbina López-Grundschule. Zu Beginn der sechsten Klasse ist alles wie immer: Der füllige, Süßigkeiten liebende Direktor Chucho (Daniel Haddad) predigt Disziplin als Basis für den Lernerfolg. Doch das hat noch nie etwas geholfen. Nur 50 Prozent der Sechstklässler schaffen hier den Übergang in die weiterführende Bildung. Auf die anderen warten niedrige körperliche Arbeiten, Hilfsdienste für Dealer oder unbezahlte Care-Tätigkeiten. Eines jedoch ist neu im beginnenden Schuljahr: Lehrer Sergio (Eugenio Derbez) hat sich hierher versetzen lassen, um ein alternatives Unterrichtskonzept auszuprobieren: Schüler sollen selbst bestimmen, was und wie sie lernen. Der Lehrer fördert nur ihre Neugier und hilft bei selbstorganisierten Problemlösungen. Damit verblüfft Sergio nicht nur die Sechstklässler, sondern stößt auch bei Kollegen und Eltern auf heftige Widerstände. Trotzdem ist das anrührende Sozialdrama ein überwältigender Wohlfühlfilm. Und zu Recht ein vielfach gefeierter Publikumsliebling.

Auf Augenhöhe

Bevor wir Sergio kennenlernen, widmet sich die Kamera in den ersten zehn Minuten den drei jungen Protagonisten. Sie tut dies auf Augenhöhe – ganz im wörtlichen Sinne, nämlich 1,20 Meter über dem Boden. Damit setzt sie das grundlegende Prinzip des Lehrers schon vor seinem ersten Auftritt um. Der Pädagoge erhebt sich nicht über seine Schützlinge, sondern glaubt an ihr Potenzial, und sei es auch noch so tief verschüttet durch soziale Hindernisse. Die zwölfjährige Paloma zum Beispiel hilft ihrem kränklichen Vater beim Müllsammeln. Beide besitzen nur einen Esel und einen klapprigen Karren, sie leben in einer herunter gekommenen Hütte direkt neben einem Berg von Abfall. Die gleichaltrige Lupe muss neben der Schule ihre beiden jüngeren Geschwister versorgen. Die Mutter arbeitet nachts in der Fabrik und braucht tagsüber ihre Ruhe. Nico dagegen hat offenbar gar keine Eltern mehr. Er lebt zusammen mit seinem älteren Bruder, einem Gang-Mitglied, und transportiert in seinem Schulrucksack des Öfteren ein Päckchen Kokain.

Wäre die Geschichte von Lehrer Sergio reine Fiktion – man würde sie wohl als durchsichtig konstruiertes Wohlfühldrama abtun. Aber die Story basiert auf Fakten. Das Leben selbst hat sie geschrieben. Der mexikanische Lehrer Sergio Juárez Correa entwickelte seine Methoden tatsächlich anhand eines auf YouTube gestellten Vortrags des indischen Pädagogik-Professors Sugata Mitra, nachdem ihn die Erfolglosigkeit des konventionellen Schulsystems fünf Jahre lang in die Verzweiflung und eine tiefe persönliche Krise getrieben hatte. Sein Fall und der seiner Schüler wurde so bekannt, dass das US-amerikanische Computermagazin „Wired“ darüber berichtete. Regisseur Christopher Zalla, der 2007 seinen letzten Kinofilm Padre Nuestre gedreht hatte, wurde so auf die außergewöhnliche Story aufmerksam.

Gegenmodell zu Duckmäusertum

Es ist paradox: Kinder sind von Natur aus neugierig, aber wenn sie ein paar Jahre in die Schule gehen, scheint ihr Wissensdurst wie ausgetrocknet. Schon seit Beginn erziehungswissenschaftlicher Debatten gibt es daher Gegenmodelle zu Frontalunterricht, Benotung und verkopften Eintrichterungsmethoden. Die Italienerin Maria Montessori, über die gerade die gleichnamige Filmbiografie von Léa Todorov im Kino gelaufen ist, war nur eine von vielen Reformerinnen und Reformern, die an das natürliche Lernbedürfnis von Kindern glaubten und es sich für ihre unterschiedlichen Ansätze zu Nutze machten. Warum sie sich bis heute nicht durchsetzen konnten – das beleuchtet Radical – Eine Klasse für sich bemerkenswert hellsichtig, aber ganz und gar nicht resigniert. Erziehung hat nämlich immer auch etwas mit der Gesellschaft zu tun, auf die die Kinder vorbereitet werden. Und wenn das Leben nicht mehr zu bieten hat als Gehorsam und Duckmäusertum, dann führen selbstbestimmte Lernmethoden zum Konflikt mit den gegeben Verhältnissen.

Autorenfilmer Christopher Zalla und sein Drehbuch-Koautor Joshua Davis verharmlosen die Hürden für alternative Lernmethoden nicht, aber sie erkennen sehr genau, dass in der realen Geschichte von Sergio Juárez Correa auch der Stoff für Humor (vor allem in der Figur des dicken Direktors) und für jede Menge Optimismus liegt. Und zwar allein schon aufgrund der guten Resultate von Correas Klassen in landesweiten Tests, aber auch wegen der Tatsache, dass der mutige Lehrer noch heute an der José Urbina López-Grundschule tätig sein darf. Und so mischt die filmische Gestaltung naturalistische Genauigkeit mit Poesie, soziale Härte mit gesellschaftlicher Utopie – immer auf den Pfaden eines Feelgoodmovies, aber nie auf denen des Klischees. Wenn das Leben schon so traurig-schöne Geschichten schreibt, muss sich das Kino ähnlich zurückhalten wie der alternative Lehrer in seinem Unterricht. Dieses Prinzip hat das Filmteam mit bewundernswerter Stringenz befolgt.

Credits

OT: „Radical“
Land: USA
Jahr: 2023
Regie: Christopher Zalla
Drehbuch: Christopher Zalla, Joshua Davis
Musik: Pacual Reyes, Juan Pablo Villa
Kamera: Mateo Londoño
Besetzung: Eugenio Derbez, Daniel Haddad, Jennifer Trejo, Mía Fernanda Solis, Danilo Guardiola, Gilberto Barraza, Victor Estrada

Bilder

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Radical – Eine Klasse für sich
fazit
„Radical – Eine Klasse für sich“ erzählt von einem alternativen Lehrer und von drei Kindern, die auf beeindruckende Weise den Freiraum nutzen, der ihnen geboten wird. Regisseur Christopher Zalla beweist ein gutes Gespür dafür, dass man eine filmreife Geschichte nicht noch mit kinematografischen Mitteln überhöhen darf. Sondern dass kluge Zurückhaltung sie umso besser zum Glänzen bringt.
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