Glitzer und Staub
© Julia Lemke / Port au Prince Pictures

Glitzer & Staub

Kritik

Glitzer und Staub
„Glitzer & Staub“ // Deutschland-Start: 29. Oktober 2020 (Kino) // 8. April 2021 (DVD)

„Bullenreiten. Das ist nichts für Mädchen.“ Schon sein Vater wusste das und er denke genauso, erklärt Xavier Escobedo. Seine Tochter Ariyana sieht das anders: Die Zehnjährige möchte als erste Frau in die PBR aufgenommen werden. Der Sportverband für Professional Bull Riding richtet landesweite Wettkämpfe und die Weltmeisterschaft aus. Bullen reiten. Der Volkssport des Mittleren Westens, der der Inbegriff der amerikanischen Lebensart zu sein scheint. Und genau darum geht es in Glitzer & Staub: Vier Amerikanerinnen – die jüngste ist zehn, die älteste 17 Jahre alt – wollen zeigen, dass sie alles erreichen können. Und riskieren beim Rodeo Stürze, Tritte und hämische Kommentare: „Zwei-Sekunden-Reiterin“ oder „Auch wenn du Bullen reitest: Du bist und bleibst ein Niemand“.

Bullenreiten: ein Sport für Mädchen?
Beim Bullenreiten steigt eine Reiterin oder ein Reiter auf einen Stier und muss sich für 8 Sekunden bzw. 6 Sekunden auf seinem Rücken halten. Die linke Hand in der Luft, die rechte Hand in einem flachen Seil, das um den Oberkörper des Bullen gezurrt ist. Der Bulle wird vorher mit Elektroschockern getriezt, ein enger Gurt um seine Hüften und das Halteseil der Reiter*in lassen ihn bocken, buckeln und springen. Das Bullenreiten ist eine der Zeitdisziplinen im Rodeosport, einem Reitturnier, das an traditionelle Tätigkeiten der Cowboys angelehnt ist. Seit Gründung der PBR 1992 wächst das Bullenreiten ebenso wie die Preisgelder. Frauen existieren in der professionellen Welt des Bullenreitens nicht – die 213 gelisteten Sportler sind alle männlich. Wie viele Mädchen in Amerika amateurhaft auf Bullen reiten, lässt sich nur schwer sagen. Sicher ist jedoch, Frauen sind im Rodeo selten, beim Bullenreiten die Ausnahme.

Vier Mädchen, vier Geschichten, ein Sport
Die Dokumentation von Julia Lemke und Anna Koch stellt Ariyana (10), Maysun (10), Altraykia (15) und Tatyanna (17) in den Mittelpunkt: vier Mädchen, deren Lebenswelten unendlich weit voneinander entfernt sind, obwohl sie im selben Land leben. Altraykia und Tatyanna sind Cousinen und leben im Navajo Reservat. Dort auf dem Land, sagen sie, muss man sehen, womit man sich beschäftigt. Für Tatyanna bedeutet Bullenreiten Freiheit: Durch die Wettkämpfe lerne sie neue Leute kennen und Gegenden, von denen sie sonst nur träumen könnte. Die Filmemacherinnen begleiten Altraykia bei ihrem ersten Versuch einen Bullen zu reiten, beim Training und bei ihrem ersten Wettkampf. Sie ist es auch die am Ende des Films sagen wird: „Das ist nichts für mich. Das ist es nicht wert.“

Rodeo in Texas mit viel Show & Spektakel
Die zehnjährige Maysun aus Texas wächst stattdessen unter Rodeo-Enthusiasten mit optimalen Trainingsbedingungen auf. Ihre Mutter, früher selbst Rodeo-Reiterin, fördert ihre Tochter auf ihrer riesigen Ranch. Maysuns Vater Trey liefert Bullen für die gefährlichste Rodeodisziplin: Seine Bullen, rühmt er sich, wolle keiner reiten. Im Übrigen ist es das, was die Leute beim Bullenreiten sehen wollen: „Einen krassen Bullen und einen krassen Typen.“ Für Frauen ist in dieser Männerwelt nur bedingt Platz. Sein Cowgirl Maysun tritt nur in den „Mädchendisziplinen“ an: Beim Slalomreiten, Kälberfangen und Ziegenschnüren feuert Miss Rodeo im schicken Kleid und mit falschen Wimpern die Sportlerinnen und Sportler an, die über den staubigen Arenenboden preschen. Für Maysun ist das die richtige Welt; ihre Schulkameraden, die sie wegen ihrer ländlichen Herkunft hänseln, könnten sich überhaupt nicht vorstellen, wie sie lebt.

Mir bleibt Maysuns Welt ebenso verschlossen: Reaktionär und religiös geht es in diesem Teil von Texas zu, wenn der Pater in der Mehrzweckhalle den amerikanischen Traum predigt: „Wenn ihr nur fest glaubt, könnt ihr alles erreichen“. Ein Satz, der in der gottverlassenen Wüste zur Farce wird: Rodeo und Bullenreiten scheint hier die einzige Möglichkeit zu sein, etwas aus sich zu machen. Wie Kinder in Rios Favelas darauf hoffen, als Fußballtalente entdeckt zu werden.

Der Kampf um Anerkennung
Im Gegensatz zu Maysun, die vor allem an Frauendisziplinen des Rodeos teilnimmt, trainiert Ariyana verbissen gegen die Vorurteile an: „Sie wird es immer schwerer haben als ihr Bruder“, weiß auch ihre Mutter, denn Bullenreiten ist in Ariyanas Welt den Jungs vorbehalten. Ihr Vater verlor beim Bullenreiten fast sein Bein, dennoch trainiert er Ariyana und ihren Bruder für die entscheidenden Sekunden auf dem Rücken des Bullen. Das Mädchen ist zäh, vermutlich zäher als ihr Bruder und dennoch kämpft sie Ritt um Ritt um Anerkennung. Selbst ein gebrochener Fuß hält sie nicht davon ab, auf den Stierrücken zu steigen. Als der sie nach einigen Sekunden abwirft, hat ihr Vater nur barsche Ratschläge für sie übrig: „Du hast zu lang gebraucht, Ariyana, in der Box darf man nicht zu lange brauchen“. Diese Tragik eint die vier Mädchen in Glitzer & Staub“ Traurig, aber auch erhaben wie die Landschaftsaufnahmen von Amerikas mittlerem Westen erzählen Koch und Lemke diese vier verschiedenen Geschichten, die leider viel zu oft den Kopf über die Vereinigten Staaten schütteln lassen.

Credits

OT: „Glitzer & Staub“
Land: Deutschland
Jahr: 2020
Regie: Anna Koch, Julia Lemke
Drehbuch: Anna Koch, Julia Lemke
Musik: Peta Devlin, Thomas Wenzel, Paul Eisenach
Kamera: Julia Lemke

Bilder

Trailer

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Die Dokumentation „Glitzer & Staub“ eröffnet den Blick auf ein Amerika, das Klischees und Vorurteile besonders bizarr zutage treten lässt: Starke Cowboys, gottesfürchtige Ranchbesitzer, aufgetakelte Rodeo-Reiterinnen, aber auch üble Verletzungen, geschundene Tiere und Mädchen, die ein „du kannst das nicht“ nicht wahrhaben wollen.