Zwei Staatsanwaelte

Sergei Loznitsa [Interview 2025]

Sergei Loznitsa gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen Regisseuren Osteuropas. Der 1964 in Baranawitschy (damals UdSSR, heute Belarus) geborene ukrainische Filmemacher studierte zunächst Mathematik und Kybernetik, bevor er an der Moskauer Filmhochschule VGIK Regie lernte. Seit seinem Debüt hat er ein vielschichtiges Werk geschaffen, das zwischen Dokumentar- und Spielfilm oszilliert und sich konsequent mit Geschichte, Erinnerung und Machtstrukturen auseinandersetzt.

Bekannt wurde Loznitsa mit präzise komponierten Dokumentarfilmen wie Blockade (2006), Maidan (2014) oder State Funeral (2019), in denen er Archivbilder mit analytischer Strenge montiert. Parallel dazu entwickelt er eine eigenständige fiktionale Handschrift, etwa in Die Sanfte (2017) oder Donbass (2018). Sein neuer Film Zwei Staatsanwälte führt diese Auseinandersetzung fort – ein Werk über Schuld, Moral und das Funktionieren von Macht im Schatten der Geschichte.

Anlässlich der Aufführung von Zwei Staatsanwälte auf der diesjährigen Viennale spricht Regisseur Sergei Loznitsa über die Vorlage von Georgi Demidow, das Sounddesign und die Parallelen der Geschichte zu heutigen Regimen, speziell dem heutigen Russland. Zwei Staatsanwälte wird am 18. Dezember 2025 in die deutschen Kinos kommen.

Dein neuer Film Zwei Staatsanwälte basiert auf der gleichnamigen Novelle Georgi Demidows. Warum hast du dich für diese Geschichte entschieden?

2017 sah ich einen Archivfilm über einen öffentlichen Prozess in den 1930er-Jahren. In einem Saal mit über 1.500 Zuschauern aus verschiedenen Nationen und im Dienst verschiedener Zeitungen wurden mehrere Menschen der Sabotage angeklagt. Die Männer waren unschuldig, waren aber wohl zuvor gezwungen worden, sich selbst zu beschuldigen, anzuklagen und letztlich beim Proletariat um Vergebung zu bitten. Dass sie die Gründe ihrer angeblichen Tat so öffentlich darlegten, war eine große Überraschung für alle im Saal.

Stalin nutzte solche Prozesse, um zu erklären, warum sich die wirtschaftliche Situation der Sowjetunion so viele Jahre nach der Revolution immer noch nicht gebessert hatte. Er konzentrierte sich dabei auf Ingenieure oder Professoren und schaffte es, das Volk zu spalten und gegen diese „Volksfeinde“ aufzuhetzen. Das führte zur Verhaftung von über 70.000 Ingenieuren und Intellektuellen – und schließlich oft zu ihrer Inhaftierung oder Ermordung.

Mich interessierte, warum diese alten, respektablen Herren eine solche „Tat“ begangen haben sollten – und warum sie sich öffentlich dazu bekannten. Da es sich bei dem Archivfilm um Propaganda handelte, war mir klar, dass ich weitergehen muss, wenn ich Antworten finden will. Ich muss die Gefängnisse zeigen, in denen die Angeklagten vor ihrem Prozess inhaftiert waren, und ich muss zeigen, was für ein System der Stalinismus eigentlich war.

Der Film beginnt mit einer Einstellung, in der Briefe von Gefangenen verbrannt werden. Ist das symbolisch gemeint?

Nein, denn das ist ja wirklich so passiert. Nicht viele Menschen wussten, was in den Gefängnissen geschah. Wie hätten sie auch – die Briefe ihrer Angehörigen erreichten sie nie.

Die Gefängnisse waren sozusagen eine Black Box.

Das ist ein guter Vergleich. Die Menschen, die dort einsaßen, waren unschuldig und verstanden nicht, warum man sie verhaftet hatte. Es waren überzeugte Kommunisten oder Bolschewisten, die zunächst an einen Irrtum der Behörden glaubten. Sie dachten wirklich, sie würden in ein paar Tagen wieder entlassen. Dann begannen Folter und Schläge. Sie wurden gezwungen, ein falsches Geständnis zu konstruieren und zu unterschreiben. Natürlich wollte das System nicht, dass irgendetwas von diesen Zuständen nach außen drang.

Georgi Demidow, der die Vorlage zu Zwei Staatsanwälte schrieb, wurde 1938 verhaftet. Er studierte Physik an der Universität Charkiw – unter anderem bei Lew Landau. Er verbrachte die nächsten 14 Jahre seines Lebens in einem sowjetischen Konzentrationslager. Viele Male kam er dem Tod sehr nahe, doch aufgrund seiner starken Konstitution überlebte er. Danach begann er, Geschichten über dieses Erlebnis zu schreiben.

Es dauerte jedoch eine ganze Weile, bis seine Geschichten veröffentlicht wurden. Sofern sie nicht zensiert wurden, untersagten die sowjetischen Behörden ihre Veröffentlichung.

Das stimmt leider. Zwei Staatsanwälte wurde 2008 veröffentlicht, Demidow schrieb die Novelle aber schon 1968. Der KGB konfiszierte 1980 das Manuskript – und damit sein gesamtes literarisches Schaffen, sogar seine Schreibmaschinen. Er hörte auf zu schreiben und starb 1987. Seine Tochter gab nicht auf und kämpfte dafür, das Werk ihres Vaters der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In den 1990er-Jahren bekam sie die Manuskripte und die Schreibmaschinen zurück. In der Folge wurden sechs Bände mit seinen Werken veröffentlicht; Zwei Staatsanwälte war, glaube ich, die letzte Veröffentlichung.

Der Grund, warum ich mich entschied, diese Geschichte zu verfilmen, war, dass Demidow nicht nur seine eigene Situation schildert. Über die Ereignisse von 1937/38, als die erwähnten Verhaftungen stattfanden, schrieb er insgesamt drei Werke, die diese Vorgänge aus unterschiedlichen Perspektiven zeigen. Mein nächster Film wird ebenfalls auf einer seiner Erzählungen basieren und die Ereignisse aus der Sicht eines damals Verhafteten zeigen. Über solche Perspektiven versteht man dieses System besser – seine Machenschaften, seine Mechanismen und vielleicht auch, wie Demidow überleben konnte.

Dieses System existiert noch heute, wenn auch in veränderter Form. Im heutigen Russland wird ein ähnliches Verfahren genutzt, um gegen Menschen vorzugehen, die sich systemkritisch äußern oder die aus irgendeinem Grund als Gefahr gelten. Das gilt nicht nur für Russland; viele Systeme setzen Bürokratie oder andere Formen von Gewalt gegen ihre Bürger ein.

Vor Zwei Staatsanwälte hast du Regie bei diversen Dokumentationen geführt. Hat das die Arbeit an diesem Spielfilm beeinflusst?

Es spielt eigentlich keine Rolle, ob ich eine Dokumentation oder einen Spielfilm drehe. Natürlich handelt es sich um zwei verschiedene Genres, aber mir fällt der Übergang leicht. Ursprünglich wollte ich für Zwei Staatsanwälte auf Archivmaterial zurückgreifen, entschied mich aber beim Drehen und beim Schnitt dagegen. Das Material, das wir filmten, stand für sich; Archivaufnahmen hätten nichts mehr beigetragen.

Für Zwei Staatsanwälte nutzten wir das Academy-Format, weil dieses Format am besten zu einem Ort wie dem Gefängnis im Film passt. Dieser Ort ist wie ein Quadrat – und das sollte sich im Bildformat widerspiegeln. Ähnliche Entscheidungen trafen wir bei Kameraführung und Farben. Da ein Gefängnis meist grau ist, haben wir alle anderen Farben kategorisch unterbunden. Und weil dieser Ort für viele Menschen Stillstand bedeutet – oder, wie in meinem Film, das Ende –, bewegt sich die Kamera nicht. Das Gefängnis ist ein deprimierender Ort, und mir war wichtig, dass das Publikum das versteht. Diese ästhetischen Entscheidungen ermöglichen es den Zuschauern, die Atmosphäre eines Gefängnisses nachzuvollziehen.

Welche Rolle spielen Schweigen und Sound bei Zwei Staatsanwälte?

Die wichtigsten Klänge in einem Gefängnis sind die Schlüssel der Wärter und das Öffnen oder Schließen eines Schlosses. Hinzu kommen die Schritte der Wärter oder der Insassen. In den Gängen entsteht ein Echo, das die erwähnten Geräusche verstärkt, wohingegen in der Zelle selbst alle Geräusche gedämpft sind. Das kann man nicht im Studio nachbilden – deshalb drehten wir große Teile des Films in einem ehemaligen Gefängnis in Riga. Für die Vorbereitungen zu Die Sanfte besuchte ich ein Gefängnis; der starke Eindruck dieses Ortes ist mir geblieben. Ich dachte daran, dass die Wärter ihr ganzes Berufsleben dort verbringen, während die Insassen meist nur einen Teil ihres Lebens dort sind. Ich fragte mich lange, was Menschen dazu bringt, sich für eine Arbeit an einem solchen Ort zu bewerben. Ich erinnerte mich auch an Michel Foucaults Überwachen und Strafen und seine Überlegungen zur Gefängnisarchitektur.

Vladimir Golovnitski war für das Sounddesign von Zwei Staatsanwälte zuständig. Für die zwei Teile, die im Zug spielen, griff er nicht einfach auf eine generische Sounddatei zurück. 1937 machten Züge ganz andere Geräusche als heute – also versuchte er, den Klang dieser Züge nachzuempfinden. Damals waren die Waggons aus Holz und es gab nur zwei Achsen pro Waggon. Auf solche Details achtet man nicht immer, aber sie sind wichtig für die Zeit, in der Zwei Staatsanwälte spielt. Es ist schwierig, diese Klänge zu rekonstruieren. Aus den 1930er- und 1940er-Jahren gibt es viel Archivmaterial, aber das meiste ist ohne Ton. Vladimir gibt sich große Mühe, authentisch zu sein und nicht auf einfache Lösungen zurückzugreifen. Deshalb arbeite ich so gern mit ihm.

Wie war die Zusammenarbeit mit Aleksandr Kuznetsov und den anderen Schauspielern?

Aleksandr traf ich ein Jahr vor Drehbeginn zum ersten Mal auf den Filmfestspielen in Cannes. Ich lud ihn ein, zum Vorsprechen zu kommen und mit den anderen Schauspielern zu proben. Er merkte intuitiv, was für eine Szene wichtig ist, und reagierte entsprechend – nicht nur sprachlich, sondern auch körperlich. Da wir Zwei Staatsanwälte chronologisch drehten, kann man sehen, wie sich etwa die Körperhaltung oder die Bewegungen seiner Figur verändern. Oleg Mutu, der Kameramann des Films, kam eines Tages zu mir und fragte, wo ich diesen talentierten Schauspieler gefunden hätte. Er war geradezu begeistert von Aleksandr.

Neben ihm spielen weitere sehr talentierte Schauspieler aus Russland mit, etwa Aleksandr Filippenko und Anatoliy Beliy. Sie alle haben Russland kurz nach Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine verlassen. Ich hoffe, dass sie weiterhin den Erfolg genießen werden, den sie in ihrer Heimat schon hatten – nur eben unter einem anderen, toleranteren Regime.

Vielen Dank für das tolle Gespräch.



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