Katharina Otto-Bernstein zählt zu jenen Dokumentarfilmerinnen, die sich nicht mit Alltäglichem zufriedengeben: Sie interessiert sich für Figuren am Rand — Außenseiter, Künstler, Erinnerer — und entwirft ihre Filme mit dem Gespür für Biografien, die größer sind als ihre Lebensläufe. Während sie früh mit Porträts wie Absolute Wilson (2006) Aufmerksamkeit erregte und mit Filmen wie Mapplethorpe: Look at the Pictures (2016) oder The Price of Everything (2018) künstlerische Subkulturen, Grenzgänge und Macht-, Kunst- und Identitätsfragen reflektierte, ist sie mit ihrem neuen Werk Der Jahrhundert-Spion (2025) in ein Terrain vorgestoßen, das ebenso historisch wie politisch aufgeladen ist.
Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet bzw. nominiert: So gewann Beautopia den Preis für den „Best Documentary“ beim Chicago International Film Festival (1998) und Absolute Wilson wurde 2006 vom renommierten Kunstmarkt-Event Art Basel als „Art Film of the Year“ ausgezeichnet.
In Der Jahrhundert-Spion erzählt Otto-Bernstein die außergewöhnliche Lebensgeschichte von Peter Sichel — geboren 1922 in Mainz, Kind einer jüdischen Weinhändlerfamilie, später Flüchtling, US-Soldat im Zweiten Weltkrieg, und schließlich als Spion und CIA-Agent eine der Schlüsselfiguren im frühen Kalten Krieg.
Im Interview spricht Katharina Otto-Bernstein über die Ursprünge ihres Projekts, ihre Recherchen sowie die erzählerische Konstruktion von Der Jahrhundert-Spion.
Was hat dich an der Person Peter Sichel fasziniert und wie lange hat es gedauert, bis Der Jahrhundert-Spion Gestalt annahm?
Mich interessieren solche Geschichten prinzipiell. Bei Der Jahrhundert-Spion geht es um unsere neuzeitliche Ursprungsgeschichte, die Geschichte Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Vertrag von Versailles – Entwicklungen, die meinen Kindern heutzutage unbekannt sind. Nichts, was heute passiert, ist nicht in irgendeiner Weise eine Weiterentwicklung dieser Ereignisse oder lässt sich nicht bis in die Kolonialzeit oder die Geschehnisse nach den beiden Weltkriegen zurückverfolgen.
1989, kurz nachdem ich die Filmschule abgeschlossen hatte, wurde ich als Location Scout von einem britischen Studio für ein Ost-West-Projekt in Berlin angeheuert. Die einzige Person, die ich in Berlin zu der Zeit kannte, war Lukardis von Studnitz, die Tochter des Beauftragten für politische Fragen an der Ständigen Vertretung Westdeutschlands in Ostdeutschland.
Ich wohnte also in Ost-Berlin, als die Mauer fiel. Dann gab es plötzlich keine Ost-West-Geschichte mehr, das britische Filmteam fuhr nach Hause, aber ich beschloss in Berlin zu bleiben, um diesen historischen Moment mitzuerleben. Herr von Studnitz kannte den Autor des Who-is-Who im Osten. Das war ein kleines Büchlein für Parteifunktionäre, in dem unter anderem die Namen sämtlicher Ost-Spione standen – mit Adresse.
In diesem Büchlein stolperten Lukardis und ich über den Namen von Günther Guillaume, dem berüchtigten Spion aus der Willy Brand Ära. Wir beschlossen, also zu Herrn Guillaume zu fahren, und ihn um ein Interview zu bitten. Dort angekommen werkelte er tatsächlich in seinem Vordergarten herum und beschnitt seine Rosen. Zunächst war er etwas unwirsch und meinte, er habe der Presse doch schon alles gesagt. Aber wir seien eine neue Generation, argumentierten wir, die noch einmal alles ganz genau wissen wolle. Schließlich stimmte er einem Gespräch zu, aber umsonst wollte er es nicht machen. Wir hatten glaube ich 50 Mark dabei, und das reichte ihm, sodass wir dann drei fröhliche Tage mit Günther Guillaume verbrachten. Für uns war das wahnsinnig aufregend. Wenn man so jung ist wie wir damals, stellt man natürlich blöde Fragen. Auf meine Frage, ob er alle Geheimdokumente mit einer Minox abfotografiert und in den Osten geschmuggelt hätte, antwortete er: “Kindchen, ich war der Referent des Kanzlers. Ich habe die Unterlagen meiner Sekretärin zum Kopieren gegeben und beim nächsten Berlin Besuch habe ich sie dann über die Grenze gebracht.“ Er hatte viel Spaß mit uns, und verwies uns dann an Ruth Werner, die berühmte „Rote Sonja“, die KGB-Verbindungsagentin des Atomphysikers, Klaus Fuchs. Sie wiederum reichte uns an den Doppelagenten Horst Hesse weiter, der die US Agenten Listen für die DDR gestohlen hatte. Und so sammelten wir Interviews mit Meisterspionen.
Und wie kamst du zu Peter Sichel?
Ich war auf der Suche nach jemandem, der die ganzen Geschichten seitens der USA bestätigen konnte. Ein befreundeter Kunsthändler hatte einen Cousin, der ein ganz hohes Tier beim CIA war – das war natürlich Peter Sichel. Ich war von ihm begeistert und fragte, ob ich nicht einen Film über ihm machen könnte. Peter war gerade dabei, seine Biografie zu schreiben, und deshalb nicht besonders interessiert. Das Ganze zog sich jahrelang hin. Endlich war das Buch fertig, er gab dem CIA zur Überprüfung und es kam in einer reduzierten, geschwärzten Version zurück, was ihn sehr geärgert hat. Er war inzwischen 94 und hatte, glaube ich, auch einen Punkt erreicht, an dem er das Gefühl bekam, dass seine Geschichte und seine Erfahrungen für die heutige Zeit von Wert sind. Als Warnung so zusagen. Ich meinte zu ihm: „Peter, du bist jetzt 94, wie lang sollen wir noch warten? Ich glaube nicht, dass der CIA dir jetzt noch Agenten auf den Hals hetzt.“ So fing unsere Reise an. Zur gleichen Zeit arbeitete ich an einer Doku-Serie über die Brüder John Foster und Allen Dulles, mit denen Peter gut bekannt war, und hatte dadurch Zugang zu sehr viel Archivmaterial. Durch meine Recherchen wusste ich manche Dinge, von denen Peter nicht wusste, dass sie mir bekannt waren, was eine spannende Atmosphäre in unsere Interviews brachte.
Herr Sichel ist ja eine wahre Fundgrube für Geschichten, von denen einige sehr lustig sind, andere aber sehr heikel, wenn man ihren politischen Kontext bedenkt. Gibt es Geschichten, die es nicht in Der Jahrhundert-Spion geschafft haben?
Der Film war einmal sechs Stunden lang. Man hätte aus Der Jahrhundert-Spion auch eine Doku-Serie machen können. Der Markt für Dokumentationen ist aber sehr themenabhängig. Im Moment sind True Crime, Star- oder Sportler-Biografien sehr gefragt, aber historische Stoffe oft weniger. Spionage ist natürlich immer ein beliebter Stoff.
Letztendlich habe ich für den Film Themen gewählt die nicht nur für den deutschen Zuschauer, aber auch für den internationalen Markt interessant sind, und die auch ein junges Publikum ansprechen. Eine Sache, die wir im Film nur kurz angeschnitten haben war die Zusammenarbeit der CIA mit ehemaligen Nazis. Peter kannte natürlich Reinhard Gehlen, Hitlers Top-Nachrichtendienstleiter an der Ostfront, den der CIA rekrutiert hatte und der später der erste Chef des BND wurde. Die Geschichte rund um Pullach als Sitz des BND war sehr interessant und hätte sicherlich noch mehr Raum im Film einnehmen können, hätte ihn aber auch sehr deutsch gemacht. Gleiches gilt für die Geschichten rund um Frank Wisner, dem Leiter vieler Geheimaktionen der CIA, den Peter sehr kritisiert hat. Wir haben dann „filmisch“ entschieden, denn viele dieser Geschichten hören sich gut an, eignen sich aber eher für ein Buch. Auch die Reaktionen des Test-Publikums waren ausschlaggebend dafür, welche Momente in Der Jahrhundert-Spion blieben.
Sichels Analysen fand ich persönlich am spannendsten, aber auch am erschreckendsten. Besonders seine Aussage, dass die Regierung nicht auf die Informationen der Geheimdienste gehört hat.
Stimmt es, dass die Bevölkerung wahrscheinlich verrückt spielen würde, wenn sie wüsste, was sich tatsächlich hinter den Kulissen der Macht abspielt?
Kartika Surkano ist vielleicht die beste Person, um diese Frage zu beantworten. Ihre Geschichte bzw. die Geschichte ihres Vaters Präsident Surkano, die auch in Der Jahrhundert-Spion vorkommt, zeigt, wie wichtig die wirtschaftlichen Hintergründe US-amerikanischer Politik in Indonesien, Vietnam, Laos und Kambodscha waren. Es zeigt die Wirklichkeit hinter der Prämisse „Doublethink“, dass man zwar öffentlich demokratische Ideale vertritt, aber letztendlich aus Selbstzweck Diktaturen stützt.
Der Regisseur Errol Morris hat mir im Interview einmal gesagt, dass ihm der Kontext eines Lebens oder einer Geschichte wichtig sei, wenn er Gespräche für ein Filmprojekt führt. Wie siehst du das?
Das sehe ich auch so. Peter hat diesen Kontext in den Gesprächen mit mir meist selbst geliefert. Viele seiner Aussagen waren geradezu prophetisch und gewagt für die Zeit, als er sie tätigte. Er war der Erste, der Washington schon 1945 mitteilte, dass die Sowjets sich die Ost-Zone einverleiben werden und er war auch der Erste, der Washington informierte, dass es keine Pläne gebe, den Eisernen Vorhang noch weiter nach Westen zu verschieben. Er war damals erst 24 und in beiden Fällen wurde ihm nicht geglaubt. Genauso erging es ihm, als er meinte, der Kalte Krieg werde sich in den Ländern der Dritten Welt entscheiden. Was auch der Fall war.
Ein interessanter Aspekt von Der Jahrhundert-Spion ist auch dessen narrative Struktur. War diese von Anfang an da oder hat sie sich beispielsweise in der Post-Produktion ergeben?
Ich glaube, das hat sehr viel mit der Thematik an sich zu tun. Der Kalte Krieg basiert auf sehr vielen Präambeln, was verlangt, dass man parallel mit der Vergangenheit und Gegenwart spielt, um die Zusammenhänge zu verstehen.
Bei einem Projekt wie Der Jahrhundert-Spion kommt die Frage hinzu, wie man überhaupt einen ehemaligen Spionagechef interviewt. Man weiß eigentlich schon, dass er einem nicht alles sagen wird oder versucht einen manipulieren, abzulenken oder das Thema zu wechseln. Peter konnte das meisterhaft und wir haben auch sehr viel gelacht, weil wir beide wussten, was der andere tat. Vielleicht war es auch deswegen gut, dass Peter bei den Gesprächen in einem gesetzten Alter war, weil er einige meiner Fragen vergessen hatte und ich ihn am nächsten Tag noch einmal auf eine andere Weise zum Thema befragen konnte. So erhielt ich letztlich alle Perspektiven zu einem Ereignis.
Du bist Mitbegründerin des Katharina Otto-Bernstein Thesis-Mentorship-Programms und betreust daher viele junge Filmschaffende. Da wir auch gerade über die Schwierigkeit gesprochen haben, politische Dokumentation zu drehen: Warum ist es vielleicht gerade in der heutigen Zeit wichtig, solche Filme zu drehen und zu fördern?
Wenn man die Filmschule hinter sich hat, gibt es kein nachhaltiges Programm, mit dessen Hilfe man an Projekte kommt oder gefördert wird. Ich hatte Riesenlück, dass ich noch als Studentin von Raimund Kusserow für eine Dokumentation angeheuert wurde. Er überließ mir das Projekt, das dann The Need for Speed: Bicycle Messengers in New York wurde. Um ehrlich zu sein, war das nicht mein Wunschthema, aber als Filmstudent oder Filmstudentin ist man froh, wenn man überhaupt ein Projekt hat. Der Film war mein Start, weil er sehr erfolgreich wurde, und sich auch international gut verkaufte. Damals war es auch nicht so, dass sich jeder darum gerissen hätte, Filmemacher zu werden. Heutzutage ist das ganz anders, denn die Filmlandschaft ist voll junger Talente mit begrenzten Arbeitsplätzen.
Bei dem Programm, das du ansprichst, arbeite ich jährlich mit vier Studententeams der Columbia University zusammen, die ihren Abschlussfilm drehen. Wir coachen sie vom Drehbuch bis hin zum fertigen Film und dessen Film-Festival-Auswertung. Sie erhalten von uns 5000 Dollar Startkapital, und wir treffen uns monatlich zur Projektbesprechung.
Durch die Arbeit mit jungen Leuten entstehen faszinierende Synergien und ein toller Austausch. Es handelt sich um Studierende aus aller Welt, Amerika, Deutschland, China, Indien, Pakistan, Japan oder dem Libanon, und damit kommen viele interessante Perspektiven auf verschiedene Themen zusammen. Das ist immer sehr inspirierend, weshalb ich diesen Austausch als eine Win-Win-Situation ansehe.
Vielen Dank für das tolle Gespräch.
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