Anders Thomas Jensen Interview
Regisseur und Autor Anders Thomas Jensen (© 2020 Zentropa Entertainments3 ApS & Zentropa Sweden AB)

Anders Thomas Jensen [Interview 2025]

Therapie für Wikinger erzählt von zwei ungleichen Brüdern und dem Versuch, ihre Differenzen zu überwinden. Schließlich geht es um Geld. Sehr viel Geld. Dieses hatte Anker (Nikolaj Lie Kaas) bei einem Banküberfall gestohlen und seinem Bruder Manfred (Mads Mikkelsen) anvertraut, damit der es versteckt. Nach 15 Jahren im Gefängnis ist Anker nun zurück und will seine Beute. Das Problem ist aber: Manfred hält sich inzwischen für John Lennon und geht auf die Bitten seines Bruders gar nicht erst ein. Es hilft nichts, Anker muss seinen realitätsfremden Bruder wieder in ihr altes Elternhaus inmitten einer Waldgegend bringen, in dessen Nähe das Geld vergraben sein muss. Dabei werden die beiden nicht nur von einem brutalen Gangster verfolgt, der selbst die Beute will, sondern auch von einer tragischen Vergangenheit. Wir haben uns zum Kinostart am 25. Dezember 2025 mit Regisseur und Drehbuchautor Anders Thomas Jensen unterhalten. Im Interview spricht er über die Suche nach einer Identität, den Verlust einer gemeinsamen Realität und die Grenzen des Humors.

Wie bist du auf die Idee für Therapie für Wikinger gekommen? Was hat dich dazu veranlasst?

Es gibt eine Reihe von Themen, über die wir in dem Film sprechen. Das vielleicht wichtigste ist aber das der Identität. Die Menschen sprechen inzwischen die ganze Zeit darüber, wer sie sind, was sie sind oder auch was sie zu sein glauben. Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen sich ständig selbst definieren wollen. Da geht es um persönliche Entwicklung, aber auch die Anerkennung durch andere. Das ist ein dankbarer Stoff für Komödien. Aber auch für Tragik. Du begegnest immer wieder Menschen, bei denen du dich fragst, wie sie so werden konnten und was sie zu dem gemacht hat, der sie jetzt sind. Und das ist es, wovon der Film für mich handelt.

Das heißt, die Identitätskrise von Manfred stand am Anfang? Da sind schließlich ganz viele inhaltliche Elemente wie die Beziehung zwischen den Brüdern oder der Banküberfall.

Genau. Früher hätte man dich in eine psychiatrische Anstalt gesteckt, wenn du dich selbst fotografiert hättest. Inzwischen haben wir uns aber in eine Richtung bewegt, in der viele nur noch das machen. Meine eigenen Kinder verbringen so viel Zeit damit, ihre eigene Identität auszusuchen. Das ist eigentlich toll, dass wir die Freiheit haben, über uns selbst zu bestimmen. Nur führt das oft zu einem Konflikt zwischen deinen inneren Gedanken und der Außenwelt. Es gibt so viele Konflikte, auch im Internet. Konflikte zwischen verschiedenen Meinungen, verschiedenen Generationen. Die Menschen streiten sich zum Teil ja schon über einzelne Wörter, weil sie sich nicht mehr darauf einigen können, was diese Wörter bedeuten sollen. Hinzu kommt das Problem der Echokammern, dass die Menschen nicht mehr miteinander reden und sich auch nicht mehr zuhören. Das ist das reine Chaos!

Gibt es einen Weg, aus diesen Echokammern wieder rauszukommen?

Ich sage meinen Kindern immer, dass sie sich nicht zu ernst nehmen sollen. Das hält einen davon ab, zu sehr über andere zu urteilen. Und es hilft auch dabei, dass du dich selbst angegriffen fühlst. Außerdem ist es wichtig, dass du dich selbst nicht nur über eine Sache definierst. Du bist immer hunderte von Merkmalen auf einmal. Mein Sohn hat rote Haare und wird manchmal dafür aufgezogen. Ich sage ihm dann, dass er so viel mehr ist als das. Wenn du anfängst, das lockerer zu sehen, verschwendest du nicht so viel Zeit und Energie darauf, über Sachen zu diskutieren. Denn die kannst du woanders besser gebrauchen.

Das hält andere aber nicht davon ab, von anderen auf eben ein Merkmal reduziert zu werden.

Das stimmt. Das lässt sich so auch nicht verhindern. Du wirst immer von manchen auf deine Hautfarbe oder dein Geschlecht reduziert. Doch noch wichtiger für deine Entwicklung ist, wie attraktiv du bist. Das ist etwas, worüber die Menschen kaum reden, obwohl es uns alle betrifft. Wenn du ein süßes Kind bist, bekommst du automatisch viel Zuspruch und Aufmerksamkeit. Wenn du hingegen hässlich bist, stößt du auf Ablehnung oder Desinteresse. Und das prägt dich natürlich dein ganzes Leben lang. Wenn du unattraktiv bist, hast du es immer schwieriger, egal, ob du einen Job suchst oder eine Wohnung. Deswegen habe ich das Thema auch in Therapie für Wikinger eingebaut und wollte darin eine Welt schaffen, in der alle zusammenleben können – auch wenn das ziemlich naiv ist.

Du hast davon gesprochen, wie wir heute bestimmen wollen, wer wir sind. Bei Manfred ist es aber so, dass er eine Identität festlegt und alle anderen zu ihm sagen: „Nein, das bist du nicht.“ Können wir daher wirklich festlegen, wer wir sind, oder geschieht das durch andere?

Du kannst das schon für dich selbst festlegen. Du darfst nur nicht erwarten, dass alle anderen das auch akzeptieren. Erzwingen kannst du das nicht. Es gibt ja auch nicht nur die eine Realität. Wir leben alle in unterschiedlichen Realitäten. Deswegen darfst du nicht sauer sein, wenn andere eine andere Realität leben.

Bis zu einem gewissen Grad ist dieser Unterschied zwischen individuellen Realitäten Alltag. Wann wird es zu einem Problem?

Das ist eine der Grundfragen, mit der wir uns derzeit auseinandersetzen müssen. Auch wenn wir in unterschiedlichen Realitäten leben, braucht es eine gemeinsame Basis. Eine Realität, die wir teilen und auf der alles andere aufbaut. Dass du bei Grün fährst und bei Rot stoppst zum Beispiel. Du kannst die Realität nicht völlig anders machen. Wir müssen uns darauf einigen können, was wahr und was falsch ist. Was real oder nicht real ist. Und das wird immer schwieriger. Wenn wir keine gemeinsame Basis mehr haben, wird das Zusammenleben unmöglich. Eines meiner Kinder hat mich mal gefragt, welche News es anschauen sollte, um sicherzugehen, dass das Gezeigte wahr ist. Ich meinte daraufhin, dass es so viele wie möglich anschauen und dann mit Logik drangehen soll, das Gesehene zu beurteilen. Aber selbst das ist inzwischen schwierig, wenn du mit künstlicher Intelligenz Realitäten neu schaffen kannst. Früher ging es darum, eine Perspektive auf die Welt zu finden. Wenn aber die Welt selbst nicht echt ist, wie willst du das dann schaffen?

Einige der Figuren in deinem Film suchen eine eigene Identität, indem sie die von anderen Menschen übernehmen. Wenn du ein anderer Mensch sein könntest, wen würdest du aussuchen?

Oh, das ist mal eine schwierige Frage. Das hängt wahrscheinlich auch von der Situation ab, von der Zeit und dem Ort. Die meisten Menschen, die ich bewundere, haben ein elendes Leben geführt oder sind auch jung gestorben. Da gibt es zu viele Komplikationen, wenn ich mein Leben austausche. Da bleibe ich doch lieber bei meinem eigenen.

In Therapie für Wikinger wird es teilweise sehr düster und tragisch, obwohl der Film insgesamt komisch ist. Gibt es Themen, bei denen du selbst sagen würdest: „Darüber kann ich keine Witze machen.“?

Nein, ich glaube nicht. Es kann natürlich sein, dass manche Themen zu dem Zeitpunkt tabu sind. Ich hätte keinen Witz zu 9/11 gemacht, zwei Tage nach den Anschlägen. Aber ich halte zum Beispiel nichts davon, über eine bestimmte Gruppe von Menschen keine Witze zu machen, weil du sie dann ja gewissermaßen auch selbst diskriminierst. Ich würde es hassen, selbst Teil dieser Gruppe zu sein. Inklusion bedeutet, dass alle gleich behandelt werden – auch bei den Witzen. Aber es geht ja bei mir nicht darum, Witze über diese Leute zu machen. Ich versuche, über die Tragödien des Lebens auf eine humorvolle Weise zu sprechen.

Kommen wir zu einem weniger schweren Thema, das auch in dem Film eine wichtige Rolle spielt: Musik. Welche Musik hörst du selbst?

Ich habe einen sehr breiten Musikgeschmack. Klassik zum Beispiel: Opern, Beethoven, Mozart, Bach. Ich höre aber auch Dua Lipa oder Eminem. Ich versuche grundsätzlich, neuere Sachen kennenzulernen, bin aber nicht sehr gut darin. Meistens höre ich auch Musik, wenn ich Auto fahre oder laufe. Ich setze mich nie hin, um einfach nur Musik zu hören. Das tue ich immer, wenn ich etwas anderes mache.

Thema Casting: Es ist kein Geheimnis, dass du immer wieder mit denselben Schauspielern arbeitest. Hast du zuerst die Figuren und überlegst dann, wer wen spielt, oder suchst du nach Figuren, die zu den Schauspielern passen?

Das ist bei jedem Film anders. Bei Helden der Wahrscheinlichkeit – Riders of Justice war es letztendlich egal, wer von Mads Mikkelsen und Nikolaj Lie Kaas welche Hauptrolle übernimmt. Man hätte sie auch einfach tauschen können. Bei Therapie für Wikinger habe ich Mads hingegen schon bei der Entwicklung der Geschichte ins Boot geholt. Eine Figur, die denkt, sie sei John Lennon, ist natürlich eine unglaubliche Konstruktion. Du brauchst da einen Schauspieler, der diese Figur so sehr ausfüllt, dass du auch glaubst, dass sie wirklich existiert. Deswegen war hier der Schauspieler schon gesetzt.

Vielen Dank für das Interview!



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