Formen moderner Erschöpfung
© Corso Filmproduktion

Formen moderner Erschöpfung

„Formen moderner Erschöpfung“ // Deutschland-Start: 13. November 2025 (Kino)

Inhalt / Kritik

Henri Kahn (Rafael Stachowiak) und Nina Dahlhoff (Birgit Unterweger) sind erschöpfte Menschen in einer erschöpften Institution. Beide suchen Hilfe in der Klinik Dr. Barner in Braunlage, einem der letzten klassischen Sanatorien seiner Art. Er, einst Opernsänger und später Sozialarbeiter in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, erlitt einen Zusammenbruch, der so weit ging, dass er einen seiner Schutzbefohlenen schlug. Sie, Key-Account-Managerin einer Hamburger Werbeagentur, kollabierte im Arbeitsumfeld, zermürbt von beruflichem Druck und einer zerrütteten familiären Situation: Seit der Scheidung ist der Kontakt zu ihrem inzwischen 20-jährigen Sohn nahezu abgebrochen.

Formen moderner Erschöpfung folgt den beiden durch ihren Klinikalltag, durch Gespräche, Therapiesitzungen, tastende Annäherungen. Zwischen ihnen entsteht eine fragile, nie ganz definierte Nähe – mehr als Zweckgemeinschaft, weniger als Liebesgeschichte. Unterbrochen wird dieses dichte, teils intime Beobachten immer wieder von Sequenzen mit der Historikerin Sarah Bernhardt, die für ihre Dissertation zur Geschichte der Klinik und zur Kulturgeschichte der Erschöpfung in den Archiven forscht und so eine zweite Erzählebene einzieht: die lange Tradition eines Krankheitsbildes, das einmal Neurasthenie hieß und heute Burnout.

Filmischer Grenzbereich

Regisseur Sascha Hilpert wählt für dieses Projekt eine dezidiert hybride Form. Formen moderner Erschöpfung ist weder klassischer Dokumentarfilm noch konventioneller Spielfilm; er bewegt sich in einem Grenzbereich, der zugleich produktiv und problematisch ist. Unterweger und Stachowiak verkörpern fiktionalisierte Figuren, die mit ihren Diagnosen in der realen Klinik Dr. Barner behandelt werden, während der Alltag im Sanatorium unverändert weiterläuft. Das Personal – Therapeutinnen, Pfleger, Ärztinnen – sind keine Schauspieler, sondern reale Mitarbeitende, die den Filmfiguren mit ernsthafter professioneller Haltung begegnen. So erhalten die Therapiegespräche, Kunst- und Körperübungen, Achtsamkeits- und Tanzangebote einen dokumentarischen Charakter, der immer wieder mit den geskripteten Momenten des Spiels kollidiert. Sarah Bernhardt, die 2020 tatsächlich zu „Neurasthenie und Burnout. Formen der Erschöpfung in der Moderne“ in der Klinik geforscht hat, führt diese doppelte Bewegung weiter: Sie tritt zugleich als historische Expertin und als Figur auf, die in ihrem Tun wiederum inszeniert wird.

Die Klinik selbst wird zur dritten Hauptfigur des Films. Die von Jugendstil-Architekt Albin Müller entworfene Anlage ist nicht bloß Hintergrund, sondern Denkraum. Hilpert und Kameramann Dirk Lütter verweilen auffällig lange bei Tapetenornamenten, Teppichmustern, Holzvertäfelungen, bei Fluren und Treppenhäusern, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Immer wieder geraten diese Räume in den Vordergrund, selbst wenn die Protagonisten nur als Silhouetten hindurchgleiten. Die Assoziationen liegen nahe: ein abgeschiedenes Haus im Schnee, labyrinthische Gänge, suggestive Muster – unwillkürlich denkt man an das Overlook-Hotel aus Shining. Gleichzeitig schwingt bei einer deutschsprachigen Erzählung im Sanatorium unweigerlich Thomas Manns Zauberberg mit. Hilpert ruft diese Traditionslinien nicht explizit auf, aber die intertextuellen Schatten liegen deutlich über den Bildern. Hinzu kommt die Geschichte des Hauses selbst: Ernst Haeckel, Hans Erich Nossack, Paul Klee – sie alle waren hier Patienten und haben darüber geschrieben. Auszüge aus ihren Texten werden von Unterweger, Stachowiak und Bernhardt aus dem Off gelesen und verknüpfen die konkreten Erschöpfungsgeschichten von heute mit einem historischen Echoraum.

Thesen statt Dialoge

Eigentlich möchte Hilpert mehr, als nur einen ästhetisch reizvollen Blick in ein traditionsreiches Haus zu werfen. Es geht ihm erklärtermaßen um „Burnout als soziale Pathologie kapitalistischer Arbeitsverhältnisse“ – also um die Frage, wie gesellschaftliche Strukturen, Leistungsdruck und ökonomische Zwänge sich in den Körpern und Biografien seiner Figuren niederschlagen. Doch genau an dieser Stelle bleibt der Film seltsam vage. Die Ursachen von Kahns und Dahlhoffs Erschöpfung werden zwar benannt, aber selten wirklich durchdrungen. Oft verdichten sie sich in Dialogen, die eher wie Thesenaufstellungen wirken: Er steht für die Position, die Gesellschaft und ihre Arbeitsverhältnisse seien ursächlich für seinen Zustand; sie verteidigt die Idee individueller Verantwortung, als müssten beide exemplarisch zwei gegensätzliche Deutungsangebote abarbeiten. Dabei wirkt vieles konstruiert – als sei der Diskurs über das „erschöpfte Individuum“ in die Figuren hineingelegt worden, statt organisch aus ihnen zu erwachsen. Gerade hier zeigt sich, was der gewählte Hybridansatz strukturell nicht auffängt: Die dokumentarische Beobachtung trägt die Komplexität der gesellschaftlichen Analyse, die Fiktion aber muss sie in Dialoge pressen – und verliert dabei an Glaubwürdigkeit.

Die dokumentarischen Anteile – die ernsthaften, ruhigen Gespräche mit Therapeutinnen und Therapeuten, die beobachteten Therapieformen von Psychotherapie über Kunsttherapie bis hin zu Achtsamkeits- und Tanzübungen – gehören hingegen zu den stärksten Momenten des Films. Hier öffnet sich etwas Authentisches, hier wird spürbar, wie Menschen versuchen, mit ihrer eigenen Fragilität umzugehen. Auch die beiden Schauspieler können in diesen Situationen ihr Können ausspielen, Nuancen von Abwehr, Überforderung, Ironie und Sehnsucht zeigen. Doch je stärker diese Passagen wirken, desto deutlicher tritt das Grundproblem von Formen moderner Erschöpfung hervor: Der hybride Ansatz steht sich selbst im Weg.

Als Dokumentarfilm über ein außergewöhnliches Sanatorium und seine Geschichte bleibt das Werk zu sehr der Fiktion verpflichtet; als Spielfilm über zwei erschöpfte Individuen verliert es sich zu oft in der Faszination für Architektur und Tradition. Vieles bleibt an der Oberfläche verhandelt, der große Bogen – von der individuellen Krise zur strukturellen Kritik – wird angedeutet, aber nicht eingesammelt. Dass der Film dabei über seine rund 120 Minuten dennoch nicht langweilt, liegt an seinem Setting, seinen Darstellenden und dem ernsthaften Willen, der Erschöpfung ein Gesicht zu geben. Es bleibt der Eindruck eines ambitionierten Projekts, das genau an seinem eigenen Anspruch scheitert – und damit vielleicht ungewollt selbst ein Symptom der Moderne ist, die es beschreiben will.

Credits

OT: „Formen moderner Erschöpfung“
Land: Deutschland
Jahr: 2025
Regie: Sascha Hilpert
Buch: Sascha Hilpert, Martin Rosefeldt
Musik: Antimo Sorgente
Kamera: Dirk Lütter
Besetzung: Birgit Unterweger, Rafael Stachowiak, Wolf List

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Formen moderner Erschöpfung
fazit
Ein formal beeindruckendes Hybrid aus Doku und Spielfilm, das Klinik, Geschichte und Gegenwart der Erschöpfung klug verschränkt, aber seine gesellschaftskritischen Ansprüche nur teilweise einlöst. Stark in den beobachteten Therapieszenen, schwächer, wo Figuren Thesen ausagieren – ein sehenswertes, aber letztlich an sich selbst erschöpftes Projekt.
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