
Nach außen hin verläuft Auroras (Maarja Johanna Mägi) Leben in äußerst geregelten Bahnen: Sie ist die Tochter des einflussreichen religiösen Führers Valdek (Indrek Taalmaa) und führt eine perfekte Ehe mit Joonas (Ott Kartau). Wobei, perfekt? Mitnichten: Trotz großer gegenseitiger Fürsorge hört ein unbeugsamer, freiheitsliebender Teil von Aurora nicht auf, Widerstand gegen die repressiven Strukturen innerhalb ihrer Familie zu leisten. Am Tag ihres Hochzeitsjubiläums droht ihre Vergangenheit in Form des wilden Lenny (Jörgen Liik) sie einzuholen und ihr gesamtes Umfeld zu enttäuschen. Obwohl Aurora dies verständlicherweise nicht möchte, kommt langsam ihre innere Zerrissenheit an die Oberfläche, auch wenn sie versucht, elegant zu bleiben.
Alles ist die Sekte
Die Couleur der familiären Sekte mutet diffus an: Sie feiern überschwängliche Gottesdienste, sind klar christlich geprägt, überall stehen teils überdimensionale Kreuze herum, ihre Mitglieder legen ihr Leben in Gottes Hand und es wird auch gerne musiziert. Eigentlich ganz harmlos, doch ganz schön konservativ und damit einhergehend einengend. Dies merkt Aurora vor einiger Zeit – Achtung, kaum als solche ersichtliche Flashbacks – als sie Lenny begegnet. Ihre Ehe mit Joonas läuft an sich gut, dieser liebt sie auch, doch die junge Frau möchte mehr Anschluss an die Außenwelt, den der lockige Herr mit Rockstar-Attitüde ihr eher geben kann als ihr Mann. Irgendwo ergibt das Sinn, denn Joonas hat keine anderen Charakterzüge, außer dass er extrem rothaarig ist und in der sekteneigenen Band mitsingt. Aurora weiß, dass das, was sie tut, falsch ist, doch kann sich dem Bann nicht wirklich entziehen. Dies sorgt für eine mentale Abwärtsspirale, Schuldgefühle plagen sie, auch fürchtet sie Konsequenzen seitens ihrer streng religiösen Familie. Es wäre ja das eine, wäre sie ein einfaches Sektenmitglied, doch als Tochter des Oberhaupts hängt eine gesamte christlich dominierte Gemeinschaft mit dran, für die sie eine Art Vorbildfunktion erfüllen muss.
Mit einem modernen, cleanen, warmen Look präsentiert das estnische Regie-Duo Andres Maimik und Rain Tolk das dramatische Aurora einem europäischen Festival-Publikum, und für genau dieses ist das Werk sichtlich optimiert. Der Score von Komponist Sten Sheripov ist klassisch spärlich orchestriert, mit Streich- sowie Blasinstrumenten, die durchaus bedrohlich und beunruhigend klingen können, und die Bildsprache dominieren etliche Nahaufnahmen, vor allem von Maarja Johanna Mägis nachdenklichem Gesicht, sowie eine nach geraumer Zeit ermüdend wirkende Shaky Cam. Ein Mise-en-Scène ist kaum existent, die Spielorte werden mehr oder weniger genommen, wie sie sind, ohne großartige ästhetische Aufbereitung, mit starker Tiefenunschärfe, so dass die Hauptpersönlichkeiten pointiert im Vordergrund stehen. Dies soll höchstwahrscheinlich Nähe und Natürlichkeit herstellen, sorgt allerdings optisch zwar für ein poliertes, aber nüchternes Ergebnis. Die Kameraarbeit ist abwechslungsreich, doch darin leider teils ideenlos.
Rücksichtsloses Verhalten als Rebellion
Hätte aktuelles, europäisches Arthouse-Festival-Kino eine Checkliste, würde Aurora sie lückenlos abhaken können. Es gibt eine stressige Dreiecksbeziehung, ungeklärte Fronten innerhalb der Familie, unwirtliche Rahmenbedingungen aufgrund der Sekte, eine hin- und hergerissene Hauptfigur zwischen Freiheiten und Pflichten sowie (un-)freiwillige Komik, da ziellose Rebellion als Ausbruch aus korsettartigen Verhältnissen fungiert. Die Handlung wird anachronistisch erzählt und kulminiert in einem riesigen Familien-/Sektentreffen, bei dem es prädestiniert ist, dass alles nur schiefgehen kann. Wie solche Gatherings noch komischer, noch unangenehmer dargestellt werden können, zeigt Shiva Baby, an das Aurora stark erinnert. Für mehr fehlt der spritzig-freche Humor einer Emma Seligman oder Rachel Sennott, das ein moralisch nicht ganz einwandfreies Verhalten seitens der Charaktere wettmachen könnte.
Handwerklich vollkommen befriedigend umgesetzt, mit nicht durchgehend überzeugendem, dafür ausdrucksstarkem Schauspiel, liegt eben in Besagtem das Problem dieses Films: Er jongliert mehrere Bälle, die darstellen, was derzeit im Gebiet des Dramas mit künstlerischem Anspruch populär ist, aber wirft keinen davon mit Schmackes hoch. Weder bekommt die Sekte ein geschliffenes Profil noch die Charaktere, deren Motivationen gleichzeitig offensichtlich und doch schleierhaft bleiben, Hauptsache, man macht es allen irgendwie recht. Nicht jeder Film muss das Rad neu erfinden, und so ist Aurora nicht mehr als ein ohne Vorbehalte ansehnlicher Streifen. Aufgrund der Erzählweise und der volatilen Handlungen der namensgebenden Hauptrolle bleibt ein Status der Verwirrung zurück, der sogar positiv sein kann, aber durchgehend mit angezogener Handbremse einen Berg hinauffährt, während das Konzept und die Schauspielleistung den Wagon stützen. Neben dem Berlinale-Shooting Star Maarja Johanna Mägi ist Jörgen Liik hervorzuheben, der leider am 11. Juli 2025 verstarb.
OT: „Aurora“
Land: Estland
Jahr: 2025
Regie: Andres Maimik, Rain Tolk
Drehbuch: Andres Maimik, Rain Tolk
Musik: Sten Sheripov
Kamera: Heiko Sikka
Besetzung: Maarja Johanna Mägi, Ott Kartau, Jörgen Liik, Kersti Heinloo, Indrek Taalmaa
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