
Heimat ist ein komplexer Begriff und wird leider in vielen aktuellen politischen Debatten negativ besetzt. Heimat bezeichnet in diesem Zusammenhang einen meist geografischen Raum, der vor fremden Einflüssen verteidigt werden muss – oder steht für ein stark nostalgisch geprägtes Gefühl, das die Vergangenheit einer Kultur oder Region aufwertet. Diese Idee geht davon aus, dass Heimat etwas Konstantes ist, doch das Gegenteil ist der Fall. In seinem Fragebogen, der von seinen Tagebuchaufzeichnungen inspiriert ist, zeigt der Schweizer Autor Max Frisch Heimat als einen fragwürdigen, brüchigen und ambivalenten Begriff. Fragen wie „Gehört zu Ihrer Heimat auch, was Sie lieber vergessen möchten?“ oder „Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht schämen müssten, wenn Sie behaupten, eine Heimat zu haben?“ verweisen auf eine Definition des Begriffs, der zwar nicht konkret, aber dafür näher an der Realität ist. Hinzu kommt noch die Frage, ob man überhaupt von einer einzigen Heimat ausgehen kann, was in Zeiten von Globalisierung und zunehmender Immigration durchaus eine berechtigte Frage ist. Und selbst, wenn man nun in ein anderes Land auswandert, bleiben immer noch Zweifel, wann man denn überhaupt von einer neuen Heimat sprechen kann.
Als Arjun Talwar (Der Esel hieß Geronimo) 2006 von seiner Heimat Delhi nach Polen auswanderte, stellte er sich diese Frage vielleicht nicht. Gemeinsam mit seinem Freund Adi hatte er viele polnische Filme gesehen und fühlte sich diesem Land durchaus verbunden, sodass sie beide beschlossen, dorthin auszuwandern und eine Ausbildung auf der renommierten Filmschule in Łódź zu beginnen. Später zog er dann nach Warschau, wo er bis heute lebt – doch nach wie vor fühlt er sich Polen als Fremder. Um der Frage nachzugehen, wann man denn endlich nicht mehr als Fremder wahrgenommen wird, begann er die Arbeit an seiner Dokumentation Briefe aus der Wilcza. Dabei konzentrierte er sich vor allem auf die Wilcza-Straße in Warschau, auf der er lebt, die verschiedenen Menschen, die in ihr wohnen, die unterschiedlichen Läden, die dort sind, und natürlich auf die Geschichte der Straße und wie sie sich im Laufe der Zeit verändert hat. Dabei entstand ein Film, der einer Selbstfindung gleich und bisweilen einem Essay über Themen wie Heimat, Fremdsein und Integration gleicht. Im Kontext der bereits beschriebenen Diskussionen über Einwanderung ist Briefe aus der Wilcza ein einfühlsamer Film, der seinem Zuschauer verdeutlicht, warum auch wir uns fragen sollten, wie wir Heimat definieren und warum dieser Begriff in den Händen nationalistischer Bewegungen schlecht aufgehoben ist.
Als Gast auf einer Hochzeit
Auf seinen Streifzügen durch die Straße begegnet Talwar einer ganzen Reihe bekannter und ihm unbekannter Gesichter. Während einer Demonstration, die den Verkehr größtenteils zum Erliegen bringt, unterhält er sich mit Ryszard, einem Mann, der eigentlich auf den Bus zum Hauptbahnhof gewartet hat, nun aber einsieht, dass dieser wohl wegen der Demonstration nicht kommen wird. Der Roma, der mit seiner Familie in einem kleinen Vorort Warschaus lebt, erzählt, er lebe schon seit vielen Jahren dort und es sei „super“, auch wenn er und seine Familie nach wie vor als Fremde bezeichnet werden. Talwar und er freunden sich an und schließlich lädt ihn Ryszard sogar zu seiner Hochzeit ein – das erste Mal, dass der gebürtige Inder in Polen zu einem solchen Anlass eingeladen wird.
Immer wieder spricht Talwar von einer „Parallelwelt“, in der Ausgewanderte leben und definiert damit seine eigene Befindlichkeit, nie wirklich in Polen angekommen zu sein, auch wenn er dort studiert hat und die Sprache beherrscht. Erst durch die Freundschaft zu einem Menschen, der ebenfalls nie vollends akzeptiert wurde, wird der Filmemacher Teil eines Festes, was typisch für seine neue Heimat ist. Indem er Ryszard jedoch dabei hilft, einen Turban zu binden – eine Widerspiegelung der indischen Wurzeln seiner Familie – wird ironischerweise ebenso die Fremdheit ausgedrückt. Aus der Symbiose mit dem Fremden entsteht etwas Neues – ein neues Gefühl der Heimat, wenn man will – , das beiden Männern zumindest temporär Mut macht und die Möglichkeit einer Integration anzeigt, die abseits der politischen Definition dieses Begriffs ist.
Der Charme einer Dokumentation wie Briefe aus der Wilcza liegt in Begegnungen wie diesen. Talwar verstrickt Einheimische wie den Briefträger Piotr oder ebenfalls Zugezogene wie seine ehemalige Kommilitonin Mo in Gespräche über Heimat, die Fremde und ob sie sich eigentlich ihrer (neuen) Heimat verbunden fühlen. Gleichzeitig zeigt er die Geschichte seiner Straße, in deren Mauern man teils noch Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg findet oder Spuren von Bombeneinschlägen. Talwar verweist mittels der Gespräche sowie seiner Recherche auf die Verbindung polnischer Geschichte, Auswanderung und Vertreibung, sodass er schließlich in der Gegenwart landet, in der nationalistische Bewegungen und Politiker Begriffe wie Heimat ideologisch vereinnahmt haben. Die Parallelen zu ähnlichen Parolen und Demonstrationen in Deutschland liegen natürlich auf der Hand, sodass die Themen und Bilder von Talwars Dokumentation weit über die Grenzen der Wilcza-Straße hinaus noch relevant sind und zum Nachdenken anregen.
OT: „Listy z Wilczej“
Land: Deutschland, Polen
Jahr: 2025
Regie: Arjun Talwar
Kamera: Arjun Talwar
Musik: Aleksander Makowski
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