
Nach einem chinesischen Sprichwort lädt Überheblichkeit das Unglück ein. In den Legenden und Mythen aller Kulturen finden sich viele Figuren, die sich selbst überschätzen und dafür einen hohen Preis bezahlen müssen. Man denke nur an die Geschichte von Daedalus und Ikarus, deren Triumph durch die Sonne nur von kurzer Dauer war und in einer Tragödie endete. Doch wir brauchen keine Mythen, um die Folgen von Hochmut zu verstehen – ein Blick in Politik und Popkultur genügt. Ein Blick in die Politik, in der sich immer wieder Menschen verschätzen und ihre Lage falsch sehen, oder Prominente, die ihre Popularität und ihren Einfluss überschätzen. Eine andere Geschichte, die uns die Folgen von Überheblichkeit zeigt, ist die des US-amerikanischen Magazins VICE, das Ende der 90er und in den 2000er Jahren den Zeitgeist einer Epoche einfing. Neben Artikeln über Sport, Musik und Lifestyle war auch die Form einzigartig und unterschied sich maßgeblich von anderen Printmedien. Später folgten Webinhalte und Dokumentation, die ebenso viel Zuspruch fanden, weshalb das von Shane Smith, Suroosh Alvi und Gavin McInnes gegründete Magazin im Jahr 2016 einen Unternehmenswert von circa drei Milliarden Euro hatte.
Eddie Huang kam ebenfalls früh in seiner Karriere mit VICE in Berührung. Seine Show auf Viceland TV gehörte zu den erfolgreichsten des Senders, doch später distanzierte er sich von dem Unternehmen. Als VICE Media 2023 Insolvenz anmeldete, konnten viele – Huang eingeschlossen – diese Entwicklung kaum fassen, denn niemand hätte gedacht, dass ein solches Milliardenunternehmen auf einmal so tief sinken konnte. In seiner Dokumentation Vice Is Broke geht Huang dem Aufstieg und dem Fall von VICE nach. Neben den Gründern des Unternehmens kommen dabei auch viele ehemalige Autoren zu Wort, die aus nächster Nähe erlebten, wie VICE mehr und mehr Opfer seiner eigenen Überheblichkeit wurde. Zugleich zeigt die Dokumentation, wie VICE den Zeitgeist einer Epoche einfing und versuchte, diesen weiter zu halten, während sich jedoch die Welt immer weiter veränderte.
Coolness ist keine erneuerbare Ressource
Eines der wohl skurrilsten Gespräche in Vice Is Broke ist das Interview Huangs mit Gavin McInnes. Nach seinem Rauswurf bei VICE 2008 gründete er die politisch rechten „Proud Boys“ und provozierte in der Vergangenheit mit sexistischen, antisemitischen oder offen rassistischen Äußerungen in der Presse oder im US-Fernsehen. Im Glauben, McInnes meine ‚den Quatsch‘ nicht wirklich ernst, fordert Huang ihn zu einem Armdrücken heraus. Sollte Huang gewinnen, muss McInnes seine wahre Motivation erklären, da Huang überzeugt ist, die „rechte Maske“ sei nur ein Vorwand oder eine extreme Provokation, wie sie in der Frühzeit von VICE immer wieder genutzt wurde. Es sind solche Momente, die den Reiz von Huangs Film ausmachen und innerhalb der teils nostalgisch verklärten Gespräche für willkommene Abwechslung sorgen. In 102 Minuten zeigt die Dokumentation, wie VICE zu einem Sinnbild des Zeitgeistes wurde, viele Trends vorwegnahm und diese heute fester Bestandteil der Popkultur sind.
Interessant sind auch Ideen, wie beispielsweise die These, dass VICE die traditionelle Definition eines Journalisten auf den Kopf stellte, nicht zuletzt, weil die meisten der Autoren keinerlei journalistische Ausbildung hatten. Es ging um „Coolness“ und um Trends, was jedoch beides flüchtige Ressourcen sind, die sich von einem Moment auf den anderen verändern können. Coolness erschöpft sich nach einer Weile – VICE unterschätzte das. Huang konzentriert sich dann auf den Weg in die „Uncool-ness“, lässt dabei aber einige unrühmliche Kapitel aus, beispielsweise eine Diskussion über die toxische Kultur bei VICE, die man als Zuschauer nur erahnen kann.
OT: „Vice Is Broke“
Land: USA
Jahr: 2024
Regie: Eddie Huang
Kamera: Luke Geissbühler
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