
Schon lange fühlt er sich in den Weiten der tosenden Weltmeere sicherer als in einer Stadt wie New York: Der Schweizer Dario Schwörer lebt mit seiner Frau Sabine und den sechs Kindern seit zwei Jahrzehnten auf einer 15-Meter-Yacht. Er hat gelernt, die Zeichen der Natur zu lesen und möchte jungen Menschen in aller Welt positive Beispiele zur Rettung des Planeten zeigen. Dazu gründeten der Klimatologe und seine Frau, als Bergführer mit den Folgen des Klimawandels unmittelbar konfrontiert, vor 25 Jahren die gemeinnützige Organisation „TOPtoTOP“. Ihr Ziel: sämtliche Weltmeere zu bereisen, die höchsten Gipfel aller Kontinente zu besteigen und darüber vor allem in Schulklassen zu berichten. Für die Schweizer Dokumentarfilmerin Livia Vonaesch sind die Schwörers auf engstem Raum noch weiter zusammengerückt und haben über sieben Jahre immer mal wieder die Kamera in die Kajüte gelassen. Herausgekommen ist ein Film, der unmittelbar miterleben lässt, wie sich solch ein unkonventioneller Lebensstil anfühlt, mit allen Freuden und Belastungen, mit sämtlichen Risiken und Überraschungen.
Maritimer Abenteuerspielplatz?
„Wenn wir Angst vor Veränderungen und Herausforderungen hätten, würden wir längst etwas anderes machen“, sagt Vater Schwörer – und ermuntert seinen Sohn Andri, auf den Hauptmast des Segelschiffes zu steigen. Der Kamerablick in die Tiefe lässt das Boot winzig erscheinen. Andri hat eine Kopfkamera dabei. Sie zeigt aus nächster Nähe, wie er bis auf die hohe Spitze steigt, wo sich ein Seil verheddert hat. Ihr Mikrophon fängt das Schnaufen und Stöhnen des Klettermaxen ein. Der Mast schwankt, die Kamera wackelt und wir Zuschauer sind quasi mittendrin in der halsbrecherischen Aktion. Als der kleine Andri – wieder unten – gefragt wird, wie es war, lacht er nur und sagt: „sehr schaukelig“. Den Kindern der Schwörers wird etwas zugetraut. Früh übernehmen sie Verantwortung, jeder hat seine Aufgabe. Sie kennen es nicht anders, alle sind während der Reise geboren worden, jeder in einem anderen Land. Und auch wenn die Filmemacherin sich ganz auf eine teilnehmende Beobachtung verlegt und sämtliche Kommentare oder Einordnungen unterlässt, wird in der Auswahl der Szenen, die es in den Film geschafft haben, eine Art heimliches Thema deutlich: Wie geht es den Kindern mit diesem unkonventionellem Leben? Ist es ein nie endendes Abenteuer? Oder vermissen sie manchmal etwas?
Viel ist passiert in den sieben Jahren Drehzeit. Die Montage schält aus den 250 Stunden Filmmaterial eine eingängige, wenn auch nicht voraussehbare Dramaturgie heraus. Sie beginnt im Winter, am kürzesten Tag des Jahres. Nur noch eine durchsegelte Nacht, dann wird die Familie in New York ankommen, dort Weihnachten feiern, die Kajüte festlich schmücken, Geschenke auspacken und vom größten Geschenk erfahren: Das sechste Baby ist unterwegs. Wo es geboren wird, hängt auch von den Winden ab. Es könnte Grönland oder Kanada sein. Am Ende wird es Island, wo die Familie wenig später von einer mittleren Katastrophe getroffen wird. Ein Sturm reißt das Schiff von den Tauen im Hafen los, 30 Rettungskräfte rücken aus, das lokale Fernsehen berichtet. Niemand wird verletzt, aber das Boot ist erheblich beschädigt. Es muss über den Winter repariert werden. Die Familie findet derweil eine Unterkunft in der Schweiz und hat viel Zeit zum Nachdenken. Das maritime Nomadentum steht auf dem Prüfstand. Sesshaft werden? Den Kindern einen dauerhaften Schulbesuch ermöglichen? Oder weitermachen?
20 qm für acht Menschen
Um sich das Leben auf hoher See vor Augen zu führen, muss man sich klarmachen, dass das Zuhause von Familie Schwörer alles andere als eine Luxusyacht ist. 20 Quadratmeter haben sie gemeinsam zur Verfügung, es gibt keine Dusche und keine Privatsphäre. Kaum zu glauben, dass hier auch noch ein Filmteam Platz hatte. Aber der Minimalismus, zu dem Livia Vonaesch gezwungen war (sie übernahm auch Kamera und Ton), hat seine Vorteile. Das Wackeln der Bilder korrespondiert mit dem Wellengang, die Kamerawinkel mit der Enge des Raumes. Die schweifenden Ausblicke an Deck lassen die Weite des Meeres spüren – und manchmal gönnt sich die Regisseurin den Luxus eines Drohnenfluges. Dann zieht die „Pachamama“ („Mutter Erde“ in der Sprache der Inka) ganz ruhig und friedlich ihre Bahn durch den glitzernden Ozean, fast wie bei einem Urlaubstrip. Ohne dass es ausgesprochen würde, liegt in den Bildern ein Dualismus, den Sabine Schwörer irgendwann so zusammenfasst: Wenn sie ein Segelschiff am Horizont sehe, so empfinde sie das wie den Inbegriff der Freiheit. Wenn sie aber an ihren Alltag an Bord denke, dann sei der schon weniger idyllisch.
Auf wohltuende Weise verweigert sich Home ist the Ocean gängigen Erwartungen von Abenteurertum, Weltenbummelei oder Öko-Romantik. Stattdessen versucht der Film, sich einer ganz eigenen, ebenso naturnahen wie fordernden Lebensweise zu nähern und den individuellen Unterschieden gerecht zu werden. Etwa denen zwischen Vater und Mutter oder denen zwischen älteren und jüngeren Kindern. Immer wieder entwickeln sich dabei berührende Szenen, die zeigen, wie nahe die Porträtierten die Filmemacherin an ihr Leben gelassen haben. Das ist weder zu intim noch distanzlos, zeugt aber von dem enormen Vertrauen, ohne das es auf hoher See einfach nicht geht. Eine Verantwortung, die der Film auch seinem Publikum überträgt: das Gesehene nicht in vorgefertigte Schablonen von Bewunderung, Ablehnung oder Indifferenz zu stecken, sondern in seiner ganzen Komplexität auf sich wirken zu lassen.
OT: „Home is the Ocean“
Land: Schweiz
Jahr: 2024
Regie: Livia Vonaesch
Drehbuch: Livia Vonaesch
Musik: Diego Baldenweg, Nora Baldenweg, Lionel Baldenweg
Kamera: Livia Vonaesch, Robert Wittmer, Mike Krishnatreya
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