Als sein Vater stirbt, gerät das Leben des Medizinstudenten Witek (Bogusław Linda) aus der Bahn. Besonders die letzten Worte des Vaters bleiben dem Sohn im Gedächtnis, der beschließt, sich ein Freisemester zu nehmen und nach Warschau zu fahren. In letzter Minute gelingt es ihm, den bereits fahrenden Zug doch noch zu erreichen, wo er sogleich Bekanntschaft mit Werner (Tadeusz Łomnicki), einem Kommunisten, macht. die beiden Männer freunden sich an und Werner lädt den Studenten sogar ein, in seiner Wohnung zu bleiben, solange er in Warschau bleibt. Zudem macht er ihn mit einem Funktionär der kommunistischen Partei bekannt, der ihm Arbeit beschafft. Als Witek dann noch seiner Jugendliebe (Bogusława Pawelec) in die Arme läuft und die beiden ihre Beziehung von einst wieder aufleben lassen, sieht Witek seiner Zukunft positiv entgegen. Jedoch sind die politischen Ansichten der beiden zu verschieden und sorgen schon bald für erste Streitigkeiten.
Inneres und Äußeres
In Interviews und späteren Retrospektiven zu seinem Werk erklärte Regisseur Krzysztof Kieślowski, dass es in seinen Geschichten weniger um das „äußere Leben“ ging und vielmehr um das, „was unsere Identität prägt“. Obwohl dieses Zitat tendenziell auf viele seiner Filme übertragbar wäre, meinte der polnische Filmemacher insbesondere seinen 1981 entstandenen und 1987 veröffentlichten Der Zufall möglicherweise. In der kurzen Zeit, als das politische System Polen etwas liberaler gegenüber Künstlern war, konnte er den Film drehen, doch bereits ein Jahr später sollte wieder alles beim Alten sein. Der systemkritische Ton traf auf wenig Gegenliebe, sodass Der Zufall möglicherweise lange Zeit nicht veröffentlicht werden durfte, nur um dann viele Jahre später ein einer „verstümmelten“ Version in die Kinos zu kommen. Dank vieler Initiativen – unter anderem von Regisseur Martin Scorsese – konnte Kieślowskis ursprüngliche Fassung jedoch größtenteils wiederhergestellt werden. Nur in dieser Fassung wird deutlich, wie scharfsinnig und empathisch Kieślowskis Blick auf den Menschen innerhalb eines politischen Systems ist und wie dieses seine Lebensentscheidungen beeinflusst.
Wie in vielen Filmen Kieślowskis ist ein augenscheinlich banaler Moment der Auslöser für die Lebenswege des Protagonisten. Eigentlich erzählt Der Zufall möglicherweise drei Geschichten, die alle damit beginnen, dass Witek den Zug nach Warschau versucht zu erreichen, wobei Kieślowski jeden möglichen Ausgang darstellt sowie dessen Folgen. Es ist schon korrekt, dass ihm das Innere immer wichtiger war als das Äußere, aber dennoch beeinflussen natürlich die Politik oder die gesellschaftlichen Erwartungen das Individuum. Anders als später in Die zwei Leben der Veronika oder der Drei Farben-Trilogie ist der Fokus weitaus mehr auf dem Zusammenhang dieser beiden Aspekte, was Der Zufall möglicherweise zu einem sehr politischen Film macht.
Witeks Lebenswege zeigen ihn als Parteimitglied, als Teil des Widerstandes und des Untergrunds sowie im letzten Teil als einen Privatmenschen, der sich vom Politischen versucht abzuwenden. In allen drei Varianten hat Witek eine Liebesbeziehung, doch auch hier mischt sich die äußere Welt gewaltsam ein, sorgt für plötzliche, emotionale Distanz zwischen den Liebenden oder trennt sie gar auf brutale Art und Weise. Kieślowski zeigt mehrerer solcher Entscheidungsmomente – im Leben des Protagonisten wie auch den Nebenfiguren – und betont ihren persönlichen Konflikt, der immer zwischen dem privaten Glück und einer Ideologie abwägen muss. Auch Inaktivität ist eine Option in dieser Welt, aber Kieślowski inszeniert genauso deren Konsequenzen, im positiven und negativen Sinne.
Drei Lebenswege, ein Urteil
Die drei Lebenswege stehen stellvertretend für einen weiteren inneren Konflikt zu der Zeit, auf die Kieślowski anspielt. Bogusław Linda als Witek ist ähnlich wie die Söhne in Franz Kafkas Erzählungen, beispielsweise in Das Urteil, einer der sich auf der einen Seite lossagen will von dieser Vaterfigur, aber auf dem die Worte und damit das vermeintliche Urteil des Vaters schwer lastet. Linda betont durch sein Spiel die Unsicherheit einer ganzen Generation sowie den Drang auszubrechen, der aber wegen politisch-sozialer Restriktionen sich niemals ganz ausleben kann. Sinnbildlich steht die Szene, in der Witek einem jungen Mann die Möglichkeit gibt, bei der Flucht vor dessen kontrollierenden Vater zu helfen.
Trotz dieses Angebots kehrt der Mann schweigend zurück auf seinen Sitz im Abteil, neben dem auf ihn einredenden Vater. Abgeklärt urteilt Werner zu Witek, dass die Menschen heutzutage nicht mehr wegrennen wollen – oder vielleicht dies gar nicht mehr können. Der Zufall mag ein Ausweg aus diesem Dilemma sein, da er unkontrolliert in Erscheinung tritt und nicht manipuliert werden kann. Aber auch in diesen Momenten bleibt Kieślowskis vage und scheut sich vor raschen Antworten. Natürlich eröffnet der Zufall eine neue Chance, doch der Zweifel bleibt, ob auch dieser nicht Teil eines viel größeren Zusammenhangs ist und damit alles andere als frei.
OT: „Przypadek“
Land: Polen
Jahr: 1987
Regie: Krzysztof Kieślowski
Drehbuch: Krzysztof Kieślowski
Musik: Wojciech Kilar
Kamera: Krzysztof Pakulski
Besetzung: Bogusław Linda, Tadeusz Łomnicki, Zbigniew Zapasiewicz, Marzena Trybala, Jerzy Stuhr, Adam Ferency, Bogusława Pawelec
Cannes 1987
Locarno 1987
Venedig 2025
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