
Der 17-jährige Simon (Leo Konrad Kuhn) schwänzt den Sportunterricht. Auf seinem ziellosen Heimweg begegnet er zufällig seinem Freund Enes (Shadi Eck), der ihn mit zu einer Gruppe Jugendlicher an den Fluss nimmt. Was zunächst wie eine Abwechslung wirkt, entpuppt sich schnell als träge Versammlung von Gleichaltrigen, die ihre Zeit mit Rauchen, Flirten und Reden über Belangloses verbringen. Zwischen müder Aufbruchsstimmung und unterschwelliger Anspannung entscheidet sich Simon, in den angrenzenden Wald aufzubrechen, was sich als Wendepunkt erweist. Nur Marie (Alva Schäfer) folgt ihm. Gemeinsam tauchen sie ein in eine dichte, fast mystisch aufgeladene Natur, die sich als Gegenwelt zur sozialen Enge der Gruppe am Fluss herauskristallisiert. Dort, abseits der prüfenden Blicke der anderen, beginnt ein vorsichtiger Annäherungsprozess, in dem beide Jugendlichen für einen Moment aus ihren festgefahrenen Rollen herauszutreten scheinen.
Monotonie und Entschleunigung
Der Fleck, Willy Hans’ erstes Langfilmprojekt, ist ein bewusst entschleunigtes Porträt jugendlicher Empfindsamkeit. Die Sommerzeit, in der der Film spielt, wirkt wie eingefroren – nichts scheint wirklich voranzugehen, alles bleibt im Schwebezustand. Bereits Simons Entscheidung, den Unterricht zu meiden, ist Ausdruck einer wortlosen Unzufriedenheit, die sich nicht in Rebellion, sondern in Passivität äußert. Am Fluss verstärkt sich dieses Bild einer generationellen Lethargie: Die Jugendlichen driften aneinander vorbei, das Miteinander ist geprägt von misstrauischen Blicken, vorsichtiger Selbstinszenierung und der ständigen Suche nach Anerkennung. In dieser Atmosphäre offenbart sich eine subtile soziale Spannung, die weniger durch offene Konflikte als durch latente Unsicherheit und gegenseitige Beobachtung geprägt ist. Die Figuren scheinen sich gegenseitig zu bewerten – unfreiwillig zu Richtern und Angeklagten im sozialen Spiel zu werden.
Der Moment, in dem Simon und Marie gemeinsam den Wald betreten, markiert einen entscheidenden Bruch im Film. Die Natur wird hier nicht bloß als Kulisse genutzt, sondern als Erfahrungsraum jenseits sozialer Zwänge. Ihre Bewegungen durch das Dickicht, das tastende Gespräch, das oft ins Schweigen kippt – all das vermittelt ein zartes Gefühl von Freiheit. Im Schutz des Waldes verlieren sich die Erwartungen, die sonst unausgesprochen zwischen den Jugendlichen am Fluss zirkulieren. Der Blick des Anderen – im Sinne Sartres ein Instrument der sozialen Kontrolle – scheint hier erstmals sanfter, offener, vielleicht sogar neugierig und wohlwollend. Zwar bleiben auch in der Zweisamkeit zwischen Simon und Marie Momente der Unsicherheit spürbar, doch öffnet sich für einen kurzen Augenblick ein Raum, in dem nicht nur Rückzug, sondern auch Begegnung möglich ist. Diese Situation ist das emotionale Zentrum des Films – eine stille, visuelle Utopie, die sich nicht in Worten, sondern in Blicken, Lichtstimmungen und Bewegungen äußert.
Visuelle Poesie
Willy Hans gelingt mit Der Fleck ein poetisch verdichteter Film, dessen wahre Stärke in der formalen Gestaltung liegt. Die Entscheidung für analoges 16mm-Material verleiht dem Werk eine körnige, warme Textur, die den melancholischen Grundton unterstreicht. Die Kameraarbeit schwankt zwischen Nahaufnahmen, die Intimität erzeugen, und distanzierten Totalen, die die Figuren isoliert in der Landschaft zeigen. Vor allem die Naturaufnahmen erzeugen eine fast transzendente Stimmung. Ergänzt wird das visuelle Konzept durch einen fein abgestimmten Score von Rajko Müller (Isolée), der mit elektronischen Flächen und irritierenden Klangfragmenten eine träumerisch-verlorene Atmosphäre schafft. Bild und Ton verschmelzen zu einer sinnlichen Erfahrungswelt, die weniger auf Handlung als auf Empfindung setzt.
Der Fleck ist also kein klassischer Coming-of-Age-Film, sondern ein stiller Versuch, die diffuse Innenwelt Heranwachsender sichtbar zu machen. Das Unbehagen zieht sich wie ein feines Netz durch das Verhalten der Jugendlichen. Doch statt dieses soziale Vakuum mit Krawall oder Überdramatisierung zu füllen, lässt Hans seine Figuren schweben – verloren, tastend, wachsam. Gerade durch seine Reduktion, durch die Weigerung, Konflikte auszuerzählen, entsteht Raum für Reflexion. Simon und Marie dürfen für einen Moment aus der sozialen Enge heraustreten, dürfen spüren, dass es jenseits von Gruppenzwang und Selbstvermessung etwas anderes geben könnte: einen Blick, der nicht fixiert, sondern freisetzt.
OT: „Der Fleck“
Land: Deutschland, Schweiz
Jahr: 2024
Regie: Willy Hans
Drehbuch: Willy Hans
Musik: isolée, Daniel Hobi, Christoph Blawert
Kamera: Paul Spengemann
Besetzung: Leo Konrad Kuhn, Alva Schäfer, Shadi Eck, Malene Becker, Felix Maria Zeppenfeld, Darja Mahotkin, Charlotte Hovenbitzer, Lasse Stadelmann, Sina Genschel, Rumo Wehrli, Ruby M. Lichtenberg, Matthias Neukirch, Michael Neuenschwander
Locarno 2024
Filmfest Hamburg 2024
Nordische Filmtage Lübeck 2024
Internationales Filmfestival Mannheim Heidelberg 2024
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