
Man muss nicht immer mit dem Finger auf die USA zeigen. Auch hierzulande gibt es zweifelhafte Praktiken und Vorschläge, wenn es um die Begrenzung der Migration geht. Menschenrechte bleiben dabei auf der Strecke, etwa im ehemaligen griechischen Lager Moria auf Lesbos, dessen völlige Überfüllung unter anderem in der Dokumentation Picknick in Moria – Blue red Deport (2022) von Lina Lužytė zu sehen war. Trotzdem sind die Vereinigten Staaten, besonders unter der zweiten Amtszeit von Donald Trump, ein Menetekel dessen, was uns auch in Europa drohen könnte. Denn dort gibt es schon seit Jahren das weltgrößte Inhaftierungssystem für Abschiebehäftlinge. Was das ganz konkret im Einzelfall bedeutet, beleuchten die deutschen Dokumentarfilmer Ole Elfenkaemper und Kathrin Seward. Indem sie einen Anwalt porträtieren, der sich hingebungsvoll um die Häftlinge kümmert, entzünden sie ein Licht, das hoffen lässt in düsteren Zeiten.
Den Tränen nahe
Gary, der Afroamerikaner in orangeroter Häftlingskleidung, ist verzweifelt. Zwar darf er per Laptop mit seinem Anwalt Marty Rosenbluth sprechen. Der Verteidiger versucht, ihm Mut einzuflößen. Doch Gary hält es keinen Tag länger im Stewart Detention Center aus. Ständig gebe es Gewalt, viele wollten sich umbringen, manchmal sei es schlimmer als im „normalen“ Gefängnis. Der Häftling senkt den Kopf, hält sich die Hand vor Augen, den Tränen nahe. Auch Anwalt Marty wirkt angefasst, nachdem er das Gespräch beendet hat, ohne Aussicht auf baldige Freilassung. Dem Häftling einen „guten Tag“ zu wünschen, sei reine Idiotie, ärgert er sich über sich selbst. Alles, was Gary ihm schilderte, kennt er aus anderen Berichten. Deswegen werde es ganz sicher kein guter Tag für den Geflüchteten. Aber irgendetwas muss man halt zum Abschied sagen.
Marty Rosenbluth weiß, dass er nicht allen helfen kann, um die er sich kümmert. 50 zu 50 stehen die Chancen auch in aussichtsreichen Fällen. Oft hängt es davon ab, ob der Richter am Morgen mit dem richtigen Fuß aufgestanden ist. Aber dann sieht man Marty mit seiner Assistentin Alondra eine automatische Nachricht der Einwanderungsbehörde abhören, der sogenannten „Immigration and Customs Enforcement (ICE)“. Es sei Freilassung angeordnet worden, heißt es trocken. Augenblicklich hält es Marty und Alondra kaum mehr auf ihren Bürostühlen. Sie jubeln lauthals, werfen die Arme in die Höhe, klatschen einander ab. In einer Woche haben sie nun bereits sechs Gefangene freibekommen. Ein Grund zum Feiern, auch wenn Gary nicht dabei war. Selbst für einen Einzelnen würde sich die ganze Anstrengung lohnen, das ist Martys Philosophie – und der Motor, der ihn antreibt, die meiste Zeit am Ende der Welt zu verbringen, fernab von Frau und Freunden.
2017, nach Beginn der ersten Präsidentschaft Trumps, zog Anwalt Marty von North Carolina in das 2000-Seelen-Örtchen Lumpkin in Georgia, wo mitten im Wald das zweitgrößte Abschiebegefängnis der USA liegt, mit rund 2000 Inhaftierten. Der Standort als solcher ist eine Menschenrechtsverletzung. Vor Marty gab es im Umkreis von 200 Kilometern keinen auf Einwanderung spezialisierten Juristen. Nur sechs Prozent der Häftlinge wurden überhaupt rechtlich beraten, aus der Ferne per Zoom. Marty, ein seit Jahren eingefleischter Menschenrechtsaktivist, wollte das ändern, auch wenn es mit persönlichen Kosten verbunden war. Für das Recht der Benachteiligten einzustehen, sei kein Beruf, sondern das, was ihn ausmache, erzählt er im Film.
Martialisch gesichert
In ruhigen, oft statischen, aber umso eindrücklicheren Bildern schildern Ole Elfenkaemper und Kathrin Seward das Leben in Lumpkin, laut Marty nicht am Ende der Welt, sondern nochmals eine Autostunde vom Ende der Welt entfernt. Nur in Ausnahmefällen rücken sie das Gefängnis in den Blick, dann aber in seiner ganzen Abschreckungskraft, martialisch gesichert mit hohen Stacheldrahtzäunen und bei Nacht wie ein Fußballstadion mit Licht geflutet. Doch selbst dieses eher beiläufig eingestreute Bild ist kein expliziter Kommentar. Die Filmemacher setzen lieber auf leise Töne, auf stille Beobachtung. Ihre Kameraeinstellungen sprechen für sich, besonders wenn sie aus der Ferne Gefangene zeigen, die von einem Bus in ein Flugzeug getrieben werden, während auf der Tonspur der Prozess von Raúl verhandelt wird, dessen Fall einen zweiten Erzählstrang bildet, vor allem in seiner Auswirkung auf die Psyche von Raúls Frau Maria, die vier Kinder durchbringen muss.
Es wäre aus europäischer Sicht sicher verlockend gewesen, einen größer angelegten Film über das amerikanische Abschiebesystem zu drehen, gerade im Vergleich mit den Parallelen, aber auch Unterschieden zur hiesigen Migrationsdebatte. Aber das Regiepaar Ole Elfenkaemper und Kathrin Seward hat sich für einen bescheideneren Ansatz entschieden. An Hour from the Middle of Nowhere lässt Hintergrundinformationen vermissen, die für eine politische und juristische Einordnung des 2023 abgedrehten Films nützlich gewesen wären, etwa was die Unterschiede während der Präsidentschaften Obama, Trump und Biden betrifft. Zudem hätte man sich eine zumindest kurze Aktualisierung vor dem Hintergrund der laufenden Massenabschiebungen unter der neuen Trump-Administration gewünscht. Trotzdem bringt die Konzentration auf einen einzelnen unerschütterlichen Anwalt auch Vorteile. Sie zeigt, wie selbst in dunkelsten Zeiten immer wieder Leute auf den Plan treten, die sich durch nichts davon abhalten lassen, für Menschenwürde und Menschenrechte zu streiten.
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