
Grau-schwarzer, wolkenverhangener Himmel. Davor umherschwirrende, kreischende Vögel. Menschen, die mit Schrecken und Entsetzen nach oben und in die Ferne starren. Mit diesen Bildern beginnt der ab Februar 2022 in der Ukraine gedrehte Dokumentarfilm Militantropos. Er zeigt die unmittelbaren Auswirkungen des russischen Angriffs auf das Land. Unkommentiert erlebt der Zuschauer hier die Folgen mit, die der Krieg für die ukrainische Bevölkerung hat. In Scharen flüchtende Menschen, Männer, die zum ersten Mal eine Waffe in den Händen halten und damit umzugehen lernen müssen oder Kinder, die das Auffahren von Militärfahrzeugen interessiert, aber scheinbar ohne Angst beobachten – für sie alle ist der Krieg Alltag geworden. Der Titel Militantropos setzt sich aus dem lateinischen Wort für Soldat und dem griechischen Wort für Mensch zusammen und bezeichnet die Rolle, die Menschen unweigerlich einnehmen, wenn sie in einen Kriegszustand gestürzt werden. Eine prägende Erfahrung und die einzige Möglichkeit, weiterzuleben.
Zwischen Leben und Krieg
Schnell macht der Film dabei vor allem eines klar: Während die Menschen unter diesen extremen Umständen einerseits an ihre Grenzen getrieben werden, bleiben sie andererseits doch immer noch Menschen wie du und ich. Das Leben geht weiter – nicht für alle, aber es geht weiter. Gerade dieser Gegensatz ist es, der für die nicht im Kriegszustand lebenden Zuschauer so unbegreiflich und entsetzlich ist. Er zeigt aber auch, wozu Menschen noch unter den entsetzlichsten Lebensumständen fähig sind, ja: sein müssen. Man kann es sich kaum vorstellen, von einem Tag auf den anderen alles hinter sich zu lassen und sich allein mit einem Koffer, vollgepackt mit dem Allernötigsten, auf in ein fremdes Land und eine ungewisse Zukunft zu machen, weil die eigene Heimat auf einmal unter Raketenbeschuss steht. Der Film zeigt Bilder von Menschenscharen, die friedlich und gesittet am Bahnhof auf den nächsten Zug in den Westen warten. Ob man selbst so äußerlich ruhig und gefasst mit dieser Situation umgehen könnte, will man am liebsten niemals erfahren. Irgendwie erwartet man, hier mehr Chaos, mehr Verzweiflung, mehr Geschrei zu sehen. Doch das Leben muss weitergehen und Extremsituationen wie der Krieg zeigen, was Menschen in der Lage sind zu ertragen.
Auf das Zeigen von weinenden, verzweifelten Menschen, von einschlagenden Bomben, von Verletzten oder von Kampfhandlungen verzichtet Militantropos weitgehend. Stattdessen bebildert der Film den Schrecken, indem er ihn eben kaum zeigt, zumindest nicht auf effekthascherische Weise, und ihn aber gerade dadurch fühlbar macht. Bürger, die in ihren zerbombten Häusern nach Gegenständen suchen. Wartende Soldaten, die ihre Stellung verteidigen müssen, aber gerade nichts anderes zu tun haben, als Kaffee zu trinken und Süßigkeiten zu essen. Ein verbrannter Wald. Menschen, die Gras mähen und sich um ihre Tiere kümmern. Kinder, die in Schützengräben zwischen Sandsäcken spielen. Bagger, die reihenweise Gräber ausheben, in den Särge versenkt werden. All das sind Szenen, die den Krieg zwar nicht unmittelbar zeigen, aber seine Folgen. Der Film zeigt die unterschiedlichen Reaktionen der Menschen, ob sie nun flüchten, kämpfen oder ihr Zuhause und ihre Familie verloren haben – und zeichnet damit ein umfassendes Bild vom Krieg, das deutlich mehr Eindruck hinterlässt als das von explodierenden Bomben ohne Kontext.
Abstrakt und nah dran
Ohne Effekthascherei, ohne dramatische Musik, ohne Off-Kommentar und ohne Interviews mit „Betroffenen“ legt die Dokumentation die Folgen des Krieges dar und beschreibt eine Gesellschaft, in der Jeder und Jede gezwungen ist, den Zustand des „Militantropos“ einzunehmen. Auch die Angreifer kommen kaum vor; der Krieg bleibt hier insofern abstrakt, als fast gar keine Kampfhandlungen gezeigt werden. Gleichzeitig wird er aber gerade dadurch greifbar, indem der Film verdeutlicht, was Krieg als Dauerzustand für die Bevölkerung bedeutet. Am Ende des Films verabschieden sich ukrainische Männer von ihren Familien und erleben womöglich letzte gemeinsame Momente mit ihnen, bevor sie in den Krieg ziehen und einer ungewissen, gefahrenvollen Zukunft entgegensehen. Wie vieles andere, das Militantropos zeigt, ist diese Situation für die meisten Zuschauer unvorstellbar. Für die in der Ukraine im Kriegszustand lebenden Menschen sind solche Dinge jedoch alltägliche Realität. Genau dies bildet der Film ab, nicht mehr und nicht weniger.
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